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19. Kassel-Marathon am 14.09.2025


Aufi geht’s!

Die Liste der von mir als interessant bewerteten, nicht allzu weit von zuhause veranstalteten Marathonläufe sinkt im Laufe der Jahre immer weiter. Entsprechend größer werden die zu ziehenden Kreise. Damit rückt u.a. Kassel in meinen Fokus, wofür ich mich letztlich entscheide. 242 km sind in zweidreiviertel Stunden zurückzulegen, weshalb ich mich auf den letzten Drücker dann doch für eine Übernachtung am Vortag entscheide. Die Unterkunft liegt in einem Gewerbegebiet und leider nicht fußläufig von Start und Ziel vor bzw. im Auestadion, deswegen bin ich am Samstagnachmittag ein paar Minuten zum empfohlenen Parkplatz an der Messe unterwegs. Den soll ich dann auch am Lauftag, also morgen, nutzen, daher wird das heute schon mal in Ruhe geübt.

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Eine knappe halbe Stunde Fußweg läßt sich trotzdem nicht vermeiden, bringt mich aber gerade wegen der langen Zeit im Auto nicht um. Alles Wesentliche ist in Zelten vor dem Stadion aufgebaut, innen finden die Zieleinläufe der Kinder und der Firmen statt. Schnell bin bei der Startnummernausgabe dran und genau so schnell enttäuscht: Um 16 Uhr gibt es bereits kein Shirt in meiner Größe M mehr, das für Marathoner in der Startgebühr inkludiert ist. Doch die Tröstung erfolgt bereits wenige Tage nach dem Lauf in Form eines Päckchens und einer Erklärung, denn zahlreiche Pakete mit Shirts waren so versteckt plaziert worden, daß sie von den Helfern nicht gefunden wurden. An anderer Stelle werden Kleiderbeutel ausgegeben,welche – und nur die! - am Lauftag deponiert werden können. Ein ebenfalls inkludiertes Nudelgericht verdrücke ich noch und dann mich komplett wieder zur Unterkunft zurück.

Nach einer guten Nacht und einem leckeren Frühstück starte ich erneut zum Parkplatz, kann aber, wie erhofft, wesentlich weiter vorne an der Straße, unmittelbar vor der Absperrung vor einem Gewerbebetrieb parken. Trotzdem bleiben etwa zwei km Fußweg übrig, was bei günstiger Witterung und ausreichendem zeitlichen Vorlauf kein Problem darstellt. Den Kleidersack gebe ich kurz vor dem Start an einem der numerierten Lkw ab und werde den hinterher auch problemlos und vor allem vollständig zurückerhalten. Den Startschuß gibt Michael Aufenanger, Sohn des legendären Begründers des Kassel-Marathons, ab, der allgemein unter dem Spitznamen Aufi bekannt war. Aufi geht’s also! Gerne hätte ich mich meinem überschaubaren Leistungsvermögen entsprechend aufgestellt (wozu wir auch aufgefordert waren), aber leider sind keinerlei Orientierungstafeln zu sehen, auch die Zug- und Bremsläufer gliedern sich, von hinten kommend, erst auf den letzten Drücker ein.
 

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Zunächst überqueren wir die Fulda, welche sich bekanntermaßen nicht weit von hier mit der Werra zur Weser vereinigt, und weiter am Südrand der Fuldaaue entlang, die sich unmittelbar rechts neben der Karlsaue befindet. Das sind zwei sehr schöne, parkähnliche Anlagen, die wir leider nur recht spärlich belaufen werden. Die Fuldaaue bekam ihr heutiges Gesicht im Rahmen einer Bundesgartenschau, die schon viele innerstädtische Kleinode vor der Bebauung gerettet hat. Über eine Eisenbahn- und Straßenüberführung setzen wir unseren Weg fort und können dank breiter, für den Autoverkehr gesperrter Wege recht bald ziemlich frei laufen. Im Stadtteil Waldau werden wir zum ersten Mal von einer größeren Gruppe Zuschauer angefeuert. Eine kurze Begegnungsstrecke läßt mich einen Blick auf die deutlich Schnelleren werfen, u.a. die 3:30er Zug- und Bremsläufer, die zu meinen besten Tagen mein Maß aller Dinge waren. Lange ist's her!
 

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Sehr erfreut bin ich, nach langer Zeit mal wieder Juliana Löffler und Hans Reinhard Hupe zu treffen. Die Thüringer – er ist blind – betreiben die Eichfelder Blindenlaufschule und sind über ihr Netzwerk mit, wenn ich mich recht erinnere, über 30 Tandems am Start. Sie sind mir besonders nahe, da sie schon mehrfach „meinen“ blinden, kenianischen Paralympicssieger Henry Wanyoike betreut und auch mich mit einem Trikotsatz („Blind“ - „Guide“) ausgestattet haben. So bin ich seit einigen Wochen zuhause mit meinem inzwischen vollständig erblindeten Physiotherapeuten unterwegs und weiß sehr genau einzuschätzen, was es bedeutet, ohne Sehvermögen in freier Wildbahn unterwegs zu sein und sich dabei vollständig einem Führer anzuvertrauen, mit dem man lediglich mit einem dünnen Seil von Hand zu Hand verbunden ist.

Nach Verlassen des Stadtteils Waldau, in Kölle würde man es Veedel nennen, befinden wir uns nun in Forstfeld, das uns besagte Begegnungsstrecke und ein kurzes Viereck bereithält. Lang ist die kerzengerade Lilienthalstraße, an deren Beginn mir die riesigen, ziegelsteinernen Fabrikationsanlagen der geschichtsträchtigen, nicht mehr existenten Textilfabrik Salzmann, nunmehr im Stadtteil Bettenhausen, durchaus positiv ins Auge sticht. Auf altes Gemäuer stehe ich. 1971 war hier nach 95 Jahren Schicht im Schacht. Der nicht nur wirtschaftliche Niedergang unseres Vaterlandes, der sich seit guten zehn Jahren dank weitsichtigen Regierungshandelns rasant beschleunigt, hatte in lohnintensiven Produktionszweigen schon viel früher begonnen. Heute ist das äußerlich beeindruckende Gebäude vom Verein "Kultur-Fabrik Salzmann e. V." und einigen Firmen genutzt. Trotzdem blieben große Teile der 20.000 m² großen Gewerbefläche ungenutzt und sind es nach wie vor. Weiterhin durchqueren wir Bettenhausen.
 

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Bei der Überquerung der Leipziger Straße haben mich die 4:15er Pacer erreicht. Ich fühle mich gut und bin kurzzeitig versucht, mich dranzuhängen, zumal ich konkurrenzlos wäre, denn die beiden haben niemanden im Schlepptau. Doch glücklicherweise siegt bei mir die Vernunft, denn das hätte ich, nicht zuletzt auch wegen fehlender langer Läufe im Training, niemals durchhalten können. Man darf ja auch mal ehrlich sein. Fein ist, daß man uns alle Straßen konsequent freihält, da muß auch mal die eine oder andere Trambahn auf eine Lücke im Läuferstrom warten. Nach guten elf km sehe ich eine größere Menschenansammlung voraus, die sich schnell als der Staffelwechselpunkt entpuppt. Naturgemäß ist hier jede Menge gebacken und ich bin nicht unfroh festzustellen, daß sich viele Staffelläufer, die ja nur ein Viertel meiner Strecke zurückzulegen haben, noch langsamer sind als ich.

Die Fulda ist erneut überquert, der Stadtteil Josephsplatz hinter mich gebracht, als mir eine attraktive Blondine mit der Aufschrift „Bitte folgen!“ auf dem Trikot die Richtung weist. Manchmal genügt es nur weniger Worte, mich zum Gehorsam zu zwingen. Elend lang und kerzengerade ist die Wilhelmshöher Allee, von deren Namensgeberin wir allerdings nichts zu Gesicht bekommen werden. Na, wenigstens das schöne Rathaus gönnt man uns als Hingucker, das die große Zerstörung der Innenstadt 1943 weitgehend unbeschadet überstanden zu haben scheint oder zumindest äußerlich originalgetreu wiederhergestellt wurde. Schön finde ich es auf jeden Fall. Kurz dahinter fallen das Stadttheater und das Museum Fridericanum auf. War die Strecke – auch hier gilt es, ehrlich zu sein – weitgehend ohne optische Genüsse, wird es jetzt wirklich nett, so wie ich das liebe, denn wir tauchen in die Karlsaue ein.
 

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Anderthalb km² groß ist sie eine ursprünglich barocke Parkanlage auf flachem Gelände und beinhaltet zahlreiche künstliche Gewässer sowie u.a. das Barockschloß Orangerie. Zusammen mit der auf der gegenüberliegenden (östlichen) Uferseite der (kleinen) Fulda gelegenen Fuldaaue bildet sie eine der größten innerstädtischen Parkanlage Germaniens. Hier fanden, ich hatte es eingangs erwähnt, 1955 (Karlsaue) und 1981 (Fuldaaue) Bundesgartenschauen statt. Ein optischer Genuß ist insbesondere auch der Tempel auf der Schwaneninsel. Das Durchlaufen dieses schönen Parks hebt sich doch deutlich von den häufig leider gesichtslosen Wohnbebauungen ab, durch die man uns führt.

 

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Dann trennt sich die Spreu vom Weizen, heißt, die Halbmarathoner dürfen geradeaus ins Ziel laufen, während wir links unseren Weg durch die Karlsaue fortsetzen dürfen, was fürs Auge eine Wohltat darstellt. Daran schließt sich der bereits bekannte und beschriebene Kurs als zweite Streckenhälfte fort. Einsam, wie von mir befürchtet, wird es erfreulicherweise nicht, denn die zahlreichen Staffeln sorgen für Kurzweil. Am Ende meiner zweiten Runde winkt zur Belohnung der Einlauf ins Auestadion, in dem der KSV Hessen Kassel seine Heimspiele austrägt, erfreulicherweise mit einer Laufbahn ausgestattet. Auf der findet die finale Runde mit geradem Rücken und entspannter Mine statt, man will ja kein Bild des Elends abgeben. Nach 4:24:04 Std. und exakt 200 Höhenmetern ist es dann geschafft.

Mein suchender Blick in Richtung Medaillenvergabe bleibt leider erfolglos. Auch andere irren verunsichert umher, nichts Genaues weiß man nicht. Na, dann gibt’s erst einmal ein leckeres Bleifreies zur Wiederbelebung, während ich auf dem Gras sitzend weiter den Schweif blicken lasse. Irgendwann bekomme ich dann mit, daß die Objekte der Begierde wohl ausgegangen sind. Ok, mich bringt das nicht um, aber für Ersttäter ist das schon enttäuschend. Erst kein Shirt, dann auch noch keine Medaille. Die heiße Dusche neben dem Stadion entschädigt fürs Erste, dann schleiche ich die zwei km zum Auto zurück. Bewegung ist ja das Beste nach solch einem Lauf, wir wissen das.
 

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Wieder zuhause angekommen, schreibe ich eine nett formulierte E-Mail an den Veranstalter und, oh Wunder, erhalte tags darauf vom Chef, Michael Aufenanger, persönlich eine gar nicht mal so kurze, bewundernswerte Antwort: Die Teilnehmerzahl sei geradezu explodiert, was im Vorfeld so nicht absehbar gewesen sei, dazu sei noch die Finisherquote deutlich gestiegen. Beides würde nachgesandt. Vollkommen klar, das läßt sich bei einem notwendigerweise monatelangen Vorlauf nicht kalkulieren. Wenige Tage später, ich hatte es am Berichtsbeginn bereits vorweggenommen, traf das nette Shirt ein und auch die Medaille wird sicherlich noch ihren Platz an meiner Wall of Fame unter ihresgleichen finden. Insofern bleibt, gerade auch wegen der freundlichen Antwort von Michael alles andere als ein schaler Beigeschmack zurück. Allerdings, das gehört auch zur Ehrlichkeit, die Strecke gibt optisch wenig her. Dem könnte abgeholfen werden, wenn man unter der Voraussetzung der organisatorischen Machbarkeit sowohl die Karls- als auch die Fuldaaue wesentlich stärker integriert. Keinesfalls ist es jedoch ein Fehler, in der nordhessischen Metropole anzutreten.