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52. Bieler Lauftage am 10./11.06.2010

Geballte Olfaktorik bei der Mutter aller Ultras
 

Waren’s auch der km viel, 2010 mußt’ ich nach Biel

„Um das Erlebnis und die Wirkung des Laufens zu haben, muß man nicht Marathon laufen. Wer doch einmal Marathon probiert hat, weil er der Herausforderung nicht widerstehen konnte, sagt sich möglicherweise: Einmal und nie wieder... Wer dann die Marathonstrecke im Griff hat – denn die meisten, die den Marathon nur ein einziges Mal versuchen wollen, werden wortbrüchig -, der wirft mit der Zeit ein Auge auf die 100 km. Nur ein einziges Mal, um überhaupt mitreden zu können – allein deshalb“.

So die Lauf- und Schreiblegende Werner Sonntag in seinem Buch „Herausforderung Marathon“ aus dem Jahr 1988. Ja kannte der mich etwa? Und das schon 1988, wo ich mich höchstens gezwungenermaßen beim Bund maximal mal über 12,5 Runden auf der Bahn gequält habe? Es scheint so, denn er schreibt mir aus der (heutigen) Seele. Dabei möchte ich mal unerwähnt lassen, daß er den Bogen von den 100 km zu den 24 Stunden-Läufen weiterspann...

Er beschreibt also wirklich meine eigene Entwicklung, die mehr oder weniger zufällig vonstatten ging. Mit 41 Jahren das Laufen begonnen, erste Volksläufe und 2002 im Siebengebirge den ersten Marathon. Zwei Tage konnte ich zur Schadenfreude meiner Familie nur rückwärts die Treppe heruntergehen und litt wie ein Hund. Trotzdem lief ich im Frühjahr 2003 durch Mainz meinen zweiten Marathon. Es kamen erste Kurzeinsätze bei Etappen von Erlebnisläufen von 50 – 54 km Länge, schließlich 2007 der Albmarathon mit 50 km und 1.100 Höhenmetern. Nie, nie (mehr) wollte ich eine weitere Strecke unter die Füße nehmen.

Dann liest man von vielen anderen herausfordernden Läufen, deren erfolgreiche Absolventen man bewundert. So etwas kommt dann für einen selbst natürlich nicht in Frage. Plötzlich entdeckt man in einer Ergebnisliste – in die man selbstverständlich nur spaßeshalber hineingeschaut hat - einen Bekannten, der es probiert und doch tatsächlich geschafft hat. Und wundert sich. Bestaunt ihn. Und stellt sich vor, man selber stünde dort verzeichnet. Quatsch, völlig illusorisch. Dann findet man immer mehr Leute, liest immer mehr und beginnt sich mit dem Thema ernsthafter auseinanderzusetzen. Ist es möglicherweise doch nicht völlig von der Hand zu weisen?

Man beginnt, Werner Sonntag zu lesen. Hört und liest auch aus anderen Richtungen vom Mythos Biel. Sagt sich, daß man ja mal eine Zwischendistanz probieren könnte. Läuft den Röntgenlauf über 63,3 km mit 850 Höhenmeter und schafft diesen. Lernt (wieder), daß Training die eine Seite der Medaille ist, die Psyche aber die andere.

Und dann ist es soweit. Du entscheidest Dich und erzählst zum ersten Mal öffentlich, daß Du es versuchen wirst. Erntest Respekt bis Spott, setzt Dich damit aber selber gewollt unter Druck. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Mit Elke reise ich bereits am Donnerstag an und treffe mich mit unseren Freunden Silke und Markus. Markus hat bereits zwei Mal den „Langen Kanten“ am Rennsteig geschafft und versucht sich hier auch erstmals am Hunderter. Weil wir, so weit wie irgend möglich, auf Nummer Sicher gehen wollen, schlagen wir die unzweifelhaften Erlebnisse Massenquartier sowie Zeltplatz aus und nehmen ein anständiges Hotel in der Hoffnung, die Nacht vorher vernünftig schlafen zu können. Irgendwie auch blöd, für drei Nächte zu bezahlen und nur zwei davon zum Schlafen zu nutzen!

Da wir bestens in der Zeit liegen, machen wir zuerst einen Abstecher zum See am Bieler Strandbad. Elke und ich nutzen die Gunst der Stunde zum Ganzkörperabkühlen – bei 32° und wolkenlosem Himmel herrlich! Anschließend machen wir uns zu Fuß zum Eisstadion auf, wo die gesamte Infrastruktur untergebracht ist. Unterwegs erkunden wir die sehenswerte Bieler Altstadt und können uns an der Architektur, an der der 2. Weltkrieg natürlich spurlos vorübergegangen ist, gar nicht sattsehen.

Die Startunterlagen holen wir direkt nach der Öffnung um 18.30 Uhr ab. Die Schlange der Männer ist bereits lang, bei den Mädels und zum Nachmelden muß man/frau nicht warten. Die Gelegenheit zur Pastaparty wird natürlich noch wahrgenommen, einige Schülerläufe beklatscht und liebe Freunde getroffen. Das Finisher-Shirt muß man sich hier übrigens, im Gegensatz zu den meisten anderen Veranstaltungen, erst verdienen und erhält es nach dem Lauf. Also darf man jeden, der es trägt, auch zu recht bewundern. Zum Hotel zurück geht es per Bus.

Am Lauftag besichtigen wir vormittags bei 22 – 24° noch Aarberg, den ersten wichtigen Punkt auf der nächtlichen Strecke und sind von Brücke, Altstadt und Fluß begeistert. Auch den Einstieg auf dem Emmendamm in Kirchberg schauen wir uns bei Tageslicht an und stellen uns vor, morgen in aller Herrgottsfrühe in deutlich verändertem Zustand wieder hier zu sein. Auf beide Punkte werde ich später noch zu sprechen kommen. Ein schönes Mittagessen im Brückenrestaurant Kirchberg beschließt den Ausflug. Zurück ins Hotel wird noch eine Stunde geruht, das WM-Eröffnungsspiel geschaut und dann wird es endgültig ernst.

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Wie lange werde ich heute benötigen? Wenn ich es denn überhaupt überstehen sollte. Ehrlich gesagt: keine Ahnung, in erster Linie zählt das Durchkommen. Da mir aber die Zeit im Falle des Falles natürlich doch nicht völlig gleichgültig ist, habe ich – ja, Klaus, ich bekenne es hier vor allen, bereue aber nichts! – in meiner Unsicherheit Kontakt mit der – nein, „Konkurrenz“ darf man nicht mehr sagen, heute ist ja alles weichgespült und politisch korrekt - „Marktbegleiter“ ist en vogue, aufgenommen. Constanze und Walter Wagner sowie Rainer Frieland machen sich auf Laufreport.de seit Jahren um den Bieler 100er mit ihrem fachkundigen Rat sowie Trainingsplänen für 9, 11 und 13 Stunden verdient. Sie beruhigen mich insoweit, als sie mir als relativ-viel-Starter in ihrer umfangreichen Antwort Mut machen, weiter wie bisher (und eben nicht speziell zielgerichtet auf Biel) zu trainieren. Und mir zustimmen, daß es mit den von mir bei diesem Waden-Woodstock ins Auge gefaßten 13 Stunden nach menschlichem Ermessen hinhauen sollte.

Trotzdem habe ich die Hosen gestrichen voll, muß ich ehrlich gestehen. Vielleicht mir Biel für meinen ersten Hunderter auch gerade deswegen ausgesucht, weil man nachts das Pack in der Hose nur olfaktorisch (geruchsmäßig) wahrnimmt und es optisch nicht auffällt... Danke, Daniel, für den herrlichen Satz und den Anstoß zum Titel dieses Berichts! A propos Olfaktorik: Auf der Strecke war darm- und geruchsmäßig bei etlichen Teilnehmern jede Menge los!

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Interessant ist übrigens, daß es immer noch selbst gestandene Marathonläufer gibt, die einen bei ehrfürchtiger Erwähnung des (W)Ortes „Biel“ verständnislos anstarren. Komisch, daß es für viele jenseits der 42,195 km nichts zu geben scheint. Woran liegt’s? Sicher auch an den Medien, die läuferische Höchstleistungen wie z.B. einen Trans Europe Footrace (4.600 km in 64 Tagesetappen ohne Pause) nicht einmal zur Kenntnis nehmen, geschweige denn darüber berichten. Zweimal hat ihn Ingo Schulze schon durchgeführt (2003 von Lissabon nach Moskau und 2009 von Bari zum Nordkap), aber außer den eingefleischten Fans und den von den Läufen betroffenen Gemeinden kaum einer bemerkt. Viel zu exotisch ist das Ganze.

Biel – Aarberg (km 18)

Nachdem sich die M4y-Autoren- und die RW-Forumsgemeinde ausgiebig beschnuppert haben, geht’s endlich zur Sache. Komischerweise bin ich die Ruhe selber. Kein nervöses Pinkeln alle halblang, nichts dergleichen. Der Startschuß fällt um 22.00 Uhr; langsam, wirklich langsam, setzt sich das Läuferfeld in Bewegung. Im Unterschied zu einem Marathonlauf dürfte die Zahl derer, die auf Rekorde aus sind, deutlich geringer sein. Der Kampf gegen sich selbst, die Natur und die Nacht stehen im Vordergrund. Markus und ich haben nach Abwägung aller Für und Wider beschlossen, so weit wie möglich und sinnvoll zusammen zu laufen.

Die ersten fünf km führen durch die Straßen Biels und sind, wie bei einem großen Stadtmarathon, voller Action, jede Menge Leute an den Rändern und damit Anreiz, zu schnell loszulaufen. Ich habe zu viele Warnungen gelesen, als daß ich mich mitziehen lassen würde. Für die ersten fünf km lasse ich mir gefühlsmäßig viel Zeit, dennoch bin ich mit gut 30 min trotz aller guten Vorsätze zu schnell für mein Vorhaben. Inwieweit das Tempo, selbst deutlich abgesenkt, auch nur ansatzweise durchzuhalten sein wird, steht völlig in den Sternen. Footballspieler (Verkleidete?) sichern die Verkehrsinseln und verhindern Verletzungen auf den ersten Metern.

Ich will mir auf jeden Fall an den Verpflegungsstellen Zeit lassen, in Ruhe trinken und auch essen. Die erste Trankstelle nach 3 km nehme ich noch im Laufschritt wassertrinkend mit, an der zweiten nehme ich mir schon Zeit, denn die nächste wird erst in Aarberg kommen. Komischerweise bin ich heute gar nicht so sehr begeistert vom recht guten Publikumszuspruch und froh, als wir dem größten Trubel entronnen sind. Eigentlich mag ich das gerne, heute bin ich aber wohl zu sehr auf einsamen Kampf in der Dunkelheit eingestellt und will diesen aufnehmen.

Was mir besonders auffällt, ist das unterschiedliche Aussehen vieler Läufer. An vielen Stellen gewohnte Optik, an anderen aber auch Outfits, die eher an Wanderer längst vergangener Tage erinnern. Uralte Rucksäcke, für mich höchst zweifelhaftes Schuhwerk und Bekleidung, die jeder Beschreibung spottet. Vermutlich werden diese alten Haudegen mich blutigen Anfänger unterwegs gnadenlos versägen.

Den ersten Anstieg hinter Port bei km 8 von 120 Höhenmetern über einen km laufe ich nicht und nehme die Warnungen ernst. 100 km sind für mich gar nicht einzuschätzen und ich vermeide jede Kraftvergeudung. Zügig schreite ich nach oben. Auch hier steht noch jede Menge Volk am Straßenrand, das uns freundlichen Beifall spendet. Schön ist der Blick zurück auf das erleuchtete Biel, aber die Kamera ist leider überfordert beim Versuch, dies einzufangen. Herunter laufe ich wieder und versuche dabei, die Oberschenkelmuskulatur möglichst zu schonen. Licht ist überhaupt keines vonnöten, denn noch sind wir der Straßenbeleuchtung nicht entkommen.

Ich war bis drei Tage vor dem Lauf zutiefst verunsichert, ob ich heute ankommen oder überhaupt loslaufen werde, denn zum ersten Mal seit neun Jahren hatte sich nach dem letzten langen Lauf eine Verletzung angekündigt, das linke Knie ärgert. Manchmal knickte das Bein wie aufgrund einer Nervenunterbrechung kurz weg, dann ging es wieder. Ein Besuch bei unserer (seriösen) Wunderheilerin wirkte tatsächlich Wunder, denn nach einer dreiviertelstündigen Behandlung und drei deutlich hörbar wieder eingerenkten Wirbeln sieht die Welt gleich wesentlich freundlicher aus.

Fünf Tag habe ich insgesamt sicherheitshalber pausiert. Ein Aussteigen ist zwar möglich, dies will ich aber ohne falsches Heldentum nach Möglichkeit vermeiden. DNF? Wo kämen wir denn da hin? Glücklicherweise sieht es nicht im Ansatz danach aus.

Mittlerweile haben wir bei Jens Km 10 nach gut 1:01 Std. erreicht. Noch immer sind wir eigentlich zu schnell. Wir sind übrigens nicht nur Markus und ich, sondern auch Jörg aus Arnstadt, der sich uns vom Start weg angeschlossen hat. Auch er will eigentlich nur durchkommen und mahnt uns zu recht und mehrfach, es noch ruhiger angehen zu lassen. Oh, es ist schwer, sich zu zügeln, wenn man sich stark fühlt und meint, nur zu schleichen!

Über etliche Feldwege, die dank des hellen Untergrundes trotz Neumond (= kein Mond) und wolkenverhangenem Himmel gut ohne eigenes Licht zu belaufen sind, geht es weiter zu unserem ersten wichtigen Zwischenziel. Km 15 ist nach 1:37 Std. erreicht. Jemand spielt Tanzmusik und ein Läuferpärchen läßt sich nicht lumpen und dreht einige Tanzrunden. Wir beeumeln uns vor Lachen. Scheinbar hat es nicht geschadet, denn zumindest Christiane hat das Ziel in 14:36 Std. erreicht.

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Auf das Erlebnis der 400 Jahre alten gedeckten Holzbrücke bei Aarberg habe ich mich gefreut und werde auch nicht enttäuscht. Wie aus dem Nichts steht sie plötzlich vor mir, die Zuschauer stehen dicht an dicht an den Rändern und spenden reichlich Beifall. Noch reicht die Kondition zum Straffen des Rückens sowie für entspanntem Gesichtsausdruck. Toll ist das Erlebnis, auf einem extra ausgerollten blauen Teppichboden zu laufen, richtig edel. Zu unserer großen Freude haben es sich unsere Frauen nicht nehmen lassen, uns an dieser Stelle anzufeuern und einen Teil der Nacht mit uns zu verbringen. Der Lohn dafür wird sofort „mündlich“ übermittelt. Danach dürfen sie schlafen gehen, um morgen als persönliche Pflegekräfte wieder fit zu sein.

Hinter der Brücke beglückt uns der unvergleichliche Anblick des hellerleuchteten historischen Marktplatzes, den wir bereits gestern besichtigen konnten, so können wir das Erlebnis noch mehr genießen. Auf dem Anger findet auch der erste Stafettenwechsel (5 Läufer) statt, gleichzeitig befindet sich hier das Halbmarathonziel. Leider ist dieser schöne Moment wirklich nur ein solcher und kurze Zeit später schon wieder vorbei. Noch haben wir kaum angefangen und noch über 81 km vor uns.

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Aarberg – Oberamsern (km 18 - 38)

Hinter Aarberg führt der Weg in die Finsternis, der angekündigte einsame Kampf mit der Strecke beginnt. Alles vorher war wohl eher Vorgeplänkel gewesen. Km 20 erreichen wir nach 2:07 Std und setzen gut gelaunt unseren Weg fort. Eberhard fällt mir ein, der seinen frühen Einbruch bei km 20 beschreibt und daß es nach 30 km plötzlich wieder ging. Von Müdigkeit oder gar Einbruch ist derweil noch nichts zu spüren. O je, ist der Weg noch lang! Gut ist aber mit Sicherheit, daß ich mir zwar klar mache, daß es insgesamt 100 km sein werden, aber immer nur das nächste Zwischenziel wirklich im Auge habe. Dies ist dann nach 23 km die Ortschaft Lyss.

Die Besonderheit ist hier das Zusammentreffen von Läufern und ihren Begleitfahrrädern (man konnte sich zur persönlichen Versorgung einen mitnehmen). In der Schweiz werden Fahrräder „Velos“ genannt. Diese waren eine halbe Stunde vor uns in Biel gestartet und durften uns auf den ersten, engen km nicht begleiten, um ein Chaos zu vermeiden. Ich erwarte einen großen Pulk, der verzweifelt nach dem jeweiligen Läufer Ausschau hält. Kein Pulk, keine Verzweiflung, zumindest erkenne ich keine. Die Radler haben sich schön über etliche hunderte Meter verteilt, viele sind natürlich auch schon mit den schnelleren Läufern auf der Strecke. Jörgs Freund und Kollege Heinz ist kurz vor km 25 wie verabredet sofort gefunden. Er trägt zwar ein Werbeshirt von Köstritzer, lacht uns aber aus, als wir nach einem kühlen Schwarzen verlangen. Mistkerl! Und futtert dann heimlich Jörgs Bifis. Solch eine Unterstützung lobe ich mir!

Jetzt geht es wirklich in die Wallachei. Vermutlich ist es gut und ein Vorteil der Nachtlauferei, daß man kaum nach vorne sehen und das vor einem Liegende nicht einschätzen kann. So wird halt einfach Fuß vor Fuß gesetzt und km für km genommen. Leider verlieren wir Jörg und Heinz an der nächsten Verpflegungsstelle und laufen alleine weiter. Das Verpflegungsangebot ist hervorragend. Niemand muß etwas mitschleppen, völlig überflüssig. Das Sortiment ist von Stelle zu Stelle leicht unterschiedlich, aber reichhaltig und abwechslungsreich. Ich erinnere mich an Wasser, Iso, Pfirsichtee, Bouillon, Cola, Brot, Bananen, Orangen, Äpfel, div. Riegelsorten und Süßigkeiten. Bestimmt habe ich noch etwas vergessen. Wer hier nichts Passendes gefunden hat, dem ist wahrlich nicht zu helfen.

Klasse anzusehen ist das Schwedenfeuer, das an einer Stelle fröhlich vor sich knistert. Auch der erste von zwei unterwegs angekündigten Kontrollposten wird erreicht, unsere Startnummern abgestempelt und schon dürfen wir weiter. Eine gute Sache, die Betrug bestimmt nicht gänzlich verhindern, aber zumindest eindämmen wird. Wobei es mir nach wie vor ewig ein Rätsel bleiben wird, wie man sich an einem „getürkten“ Ergebnis erfreuen kann.

Km 30 passieren wir nach 3:19 Std und sind damit noch immer vergleichsweise schnell. Für einige km finden wir uns mit Jörg nochmals zusammen, aber dann verlieren wir ihn und Heinz an der nächsten unübersichtlichen Tränke leider endgültig. Weiter geht es durch das Limpachtal durch ein Waldgebiet bis Oberramsern.

Oberamsern – Kirchberg (km 38 - 56)

Oberramsern ist nach 38,5 km Marathonziel und zweiter Stafettenwechsel. Hier ist auch die erste „Cut off-Stelle“, wie es so schön neudeutsch heißt. Um 5.15 Uhr muß man hier durch sein; damit sollten, wenn überhaupt, nur reine Wanderer ein Problem haben. Die müssen wenigstens einen knappen 5 km-Schnitt pro Std. hinbekommen, wenn sie in der geforderte Zeit von 21 Std. durchkommen wollen. Einundzwanzig Stunden. Meine Güte!

Gleichzeitig ist hier auch die erste von drei offiziellen Ausstiegsmöglichkeiten, an denen man mit der gelaufenen Strecke gewertet wird. Das ist dann zumindest ein kleines Trostpflaster, falls es nicht bis zum Ende klappen sollte. KM 40 erreichen wir nach 4:31 Std. Es folgt bei km 42 ein langer Anstieg, der alle wieder zu demütigen Wanderern werden läßt. Na prima, gerade den ersten Marathon geschafft und schon wird man den Berg hochgejagt. Interessant ist wirklich das Verschieben der Perspektiven: Ist man beim Marathon nach 42 km oftmals physisch und psychisch am Ende, empfinde ich die 42 km an dieser Stelle der 100 km wirklich nur als Zwischenetappe. Und bin froh darüber, daß es so ist.

Schon lange warte ich darauf, müde zu werden. Und damit ist auch wirklich zu rechnen, den mein Biorhythmus ist um 22 Uhr normalerweise auf Bubu machen eingestellt. Nichts dergleichen erfolgt. Ich laufe konzentriert, bin wach und fühle mich frisch. Sehr sonderbar. Aber das zeigt, wie unterschiedlich Läufer reagieren und vermutlich ist das das bei den Wiederholungstätern auch jedes Jahr unterschiedlich. Schön anzuschauen, nützlich und von den Läufern gerne genutzt sind die zahlreichen Brunnen und Wassertröge, die sich vor etlichen Bauernhäusern befinden und angenehme Kühle spenden. A propos Kühle: Die Temperatur fällt wohl kaum unter 15° und ich werde am Ende die Jacke umsonst mitgeschleppt haben, denn außer ein paar Tröpfchen werden wir vom angedrohten Wolkenbruch glücklicherweise nichts abbekommen.

Bei km 50 feiern wir nach 5:40 Std. Bergfest. Wir sind demnach wahnsinnig schnell. Ich kann das gar nicht richtig einordnen, denn noch fühle ich mich wirklich gut und keinesfalls ausgelaugt. Wahrscheinlich verpflege ich auch vernünftig. Ich trinke an jeder Stelle mindestens drei Becher, fast immer ist einer mit Bouillon (Salz!) dabei und esse auch, am liebsten Banane mit Brot, das rutscht gut. Ich wundere mich auch darüber, daß der Magen keine Zicken macht, denn mitten in der Nacht hat der in der Regel auch nichts zu arbeiten.

Bei km 56 ist die zweite Cut off-Stelle (muß um 10.45 Uhr passiert sein) und zweite offizielle Ausstiegsmöglichkeit. Aussteigen müssen hier auch die Begleitradler, denn die dürfen nicht mit auf den jetzt folgenden Emmendamm.

Emmendamm (km 56 – 65)

Was wurde schon alles über den Damm entlang der Emme, besser als „Ho Chi Minh-Pfad“ seligen Angedenkens an den nordvietnamesischen Revolutionär bekannt, geschrieben. Steinig, schlammig, eng, Zweige hängen herunter, dunkel selbst in der Dämmerung, so wird er beschrieben. Wobei Ho Chi Minh ja „Der die Erleuchtung bringt“ bedeutet, davon ist leider nichts festzustellen. Es ist dunkel wie im Bärenpopo. Die Originalausgabe diente als Straßennetzwerk der logistischen Unterstützung eigener Truppen von Nord- nach Süd-Vietnam, teils über die Gebiete von Laos und Kambodscha. Ich habe mich, ich gebe das ehrlich zu, auf diesen Abschnitt gefreut. Klar, keine Ahnung von nichts, aber so war’s trotzdem. Ungewöhnliches mache ich gerne, auch wenn es schwerfällt.

Der erste Abschnitt ist leicht zu laufen, ist ein schmaler, heller Kiesweg. Dann aber taucht er in einen Waldabschnitt ein und es wird richtig dunkel. Ich bin froh, erstens meine und zweitens genau diese Stirnlampe dabei zu haben. Sie ist sagenhaft hell und leuchtet den Weg phantastisch aus. Etwas schwieriger zu belaufen sind dann die Teile, die über Wurzeln und Kieselsteine führen. Aber wiederum ehrlich und ohne Angabe: ich habe mir das aufgrund einiger Beschreibungen wesentlich dramatischer vorgestellt. Wer nicht nur auf Asphalt läuft, sondern einigermaßen landschaftslauferfahren ist, wird keine Probleme bekommen. Es sei denn, man ist schon so erschöpft, daß nur noch ein Stolpern möglich ist.

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Super ist auch, daß gerade die Dämmerung beginnt. Das zunehmende Vogelgezwitscher ist herrlich anzuhören. Wann erlebt man das schon mal derart intensiv? Und dann gibt es tatsächlich einige Helden, die sich die Ohren mit Musik volldröhnen. Keine Frage – ich kann das auch gut haben, aber doch nicht hier! Eine tolle Verpflegungsstelle ist unter einer Brücke plaziert. Die Helfer werden hier nie naß und sicher von vielen anderen darum beneidet. Überhaupt Helfer: Sagenhaft, was die leisten! So lange auf und nie sehe ich mürrische Gesichter. Danke, liebe Schweizer Freunde! Der Läufer freut sich halt immer aufs nächste Happahappa. Km 60 kommt bei 6:59 Std.

Dann, irgendwann, verlassen wir den Wald und den Ho-Chi-Minh-Pfad, denn der Rest des Emmendamms, der für zwei bis drei km schnurgeradeaus weiterführt, hat diese Bezeichnung nicht mehr verdient. Dafür sehen wir jetzt um so besser und lange Geraden sind nichts wirklich Tolles, besonders zu diesem Zeitpunkt.

Ende Emmendamm – Bibern (km 65 – 76)

Nach dem Emmendamm kann ich die Landschaft gut überblicken und leider auch wieder Entfernungen einschätzen. Da muß ich halt jetzt durch, es hilft ja nichts. Schön ist nun, daß immer wieder Brücken zu überqueren sind, die Abwechslung in die Lauferei bringen. Langsam beginne ich, Tempo einzubüßen und fange an, mich auf jede Steigung (= Gehen) zu freuen. Dann muß ich auch den einen oder anderen Meter mal aufs Laufen verzichten und versuche so, wieder Kräfte zu sammeln. Viel kommt aber nicht mehr. Interessant: Müde fühle ich mich noch immer nicht, nur zunehmend saft- und kraftlos. Aber das ist nach über 70 km (8:16 Std) sicher nichts Ungewöhnliches.

Es folgt ein langer Anstieg von Gerlafingen bis kurz hinter Bibern, die wir erneut zum Gehen und damit Regenerieren nutzen. Hatte ich vorher noch groß getönt, die Konditorei in Lüterkofen bei km 72 zum Kaffeetrinken und Croissantessen nutzen zu wollen, winke ich am Ort des Geschehens nur noch müde ab. Mann, bin ich ein Schlaffsack. In Bibern befindet sich dann die dritte und letzte Cut off-Stelle, hier muß man um 15.15 Uhr durch sein. Wie auch bei den beiden anderen offiziellen Ausstiegsmöglichkeiten verschwende ich an ein vorzeitiges Ende keinen Gedanken, mental bin ich wirklich top drauf. Nur der Rest halt...

Schön ist, daß selbst zu diesem Zeitpunkt noch Leute auf sind und feiern. Nein, teilen sie auf Nachfrage mit, sie haben nicht geschlafen und sind früh aufgestanden, haben also mit uns durchgehalten. Danke, Freunde. Da sei der eine oder andere dämliche alkoholbedingte Kommentar überhört.

Bibern – Büren (km 76 – 90)

Brutal ist dann der lange Anstieg von Arch, steil und heftig, gerade bei der jetzigen Erschöpfung. Aber: wo ein Anstieg ist, kommt irgendwann ein Scheitelpunkt und ein erholsamer Abstieg. Ach, Du meine Güte, von wegen erholsam. Meine Oberschenkel quietschen beim Abbremsen und wenn ich versuche es rollen zu lassen, muß ich fürchten, mich zu überschlagen. Also geht es relativ vorsichtig oberschenkelintensiv diese lange, lange Strecke bergab. Km 80 wird nach 9:34 Std. passiert. Ich merke, daß Markus besser drauf ist und schicke ihn an der nächsten Flachpassage bei etwa km 82 vor. Er ziert sich erst etwas, zieht aber dann schnell ab und ist fast sofort aus meinem Blickwinkel verschwunden. Auf diesen letzten 18 km wird er eine gute halbe Stunde herauslaufen. Respekt, mein Lieber!

Ich aber beginne zu leiden. Drei Minuten gönne ich mir jetzt immer öfter zu gehen, um dann sieben Minuten (= 1 km) zu laufen. Oh, das Anlaufen fällt von Mal zu Mal schwerer! Was mich tröstet ist die Tatsache, daß es denen um mich herum kaum besser zu gehen scheint. Ziehharmonikaförmig quälen wir uns über die km. Mal geht der eine, dann läuft der andere. Und wieder umgekehrt. An der Verpflegungsstelle in Büren (km 88) ziehe ich meinen letzten Joker und beginne, Cola zu trinken. Aber nicht in homöopathischen Dosen! Ob es wirklich noch etwas hilft, kann ich nicht beurteilen. Zumindest geht es im bisherigen Stil weiter.

Büren – Biel (km 90 – 100)

Hinter Büren ist tatsächlich irgendwann einmal km 90 (10:50 Std) erreicht. Interessant ist wiederum, daß ich, wenn ich denn laufe, das noch einigermaßen zügig hinbekomme, denn die 5 km-Zeiten laufen nicht vollkommen aus dem Ruder und die km-Schilder tauchen meist überraschend früh auf, ich hatte mich noch langsamer eingeschätzt. Gut so! Ich setze mich auch nicht hin, wie es einige andere machen. Ich weiß nicht, ob ich wieder hochgekommen wäre. Will nur noch ins Ziel. Bewundere die Radbegleiter, die bei der Schleichfahrt fast vom Rad fallen und dabei mindestens genau so müde sein müssen.

Km 95 (11:31 Std). Jetzt ist jeder der restlichen 5 km ausgeschildert. 96. 97. 98. Silke und Lothar gehen Hand in Hand, ein schönes Bild. Für mich. Ich knipse sie und in ihrer Erschöpfung sind sie zunächst etwas unwirsch. Ich erkläre ihnen, warum ich die Bilder mache und biete an, das von ihnen zu löschen. Nein, das sei dann doch OK. Mir gefällt gerade diese Szene besonders gut, denn sie zeigt, daß geteiltes Leid halbes Leid ist. Und ihr seid ja wohl mehr als respektabel durchgekommen! Doch, Eure Zweisamkeit hat mir sehr gut gefallen!

Und dann ist der große Moment da. Nein, nicht das Ziel. Das km-Schild 99. Darauf habe ich mich mindestens genau so gefreut wie auf das Ziel selber. Ich überlege schon, wie ich ein Selbstportrait am geschicktesten hinbekomme, aber eine gute Seele ist vor Ort und macht zwei schöne Bilder von mir und „meinem“ Schild. Wie oft habe ich diesen Anblick schon mit fremden Gesichtern gesehen, die Glücklichen bewundert und beneidet. Und jetzt darf ich selber da stehen und weiß, daß mich nur noch wenige Minuten von meinem größten Läufertriumph trennen.

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Erst auf den letzten paar hundert Metern laufe ich wieder ins Stadtgebiet und höre schon den Moderator. Staune, daß unmittelbar vor mir mein Lauffreund Thorsten Hintsch ins Ziel kommt, den ich noch gestern beim Start vergeblich gesucht hatte (und er mich). Dann sehe ich es: Das Ziel! Auch für mich finden sich ein paar Klatscher – danke! – und dann entdecke ich Silke und Elke 50 m vor dem Bogen am rechten Rand stehen. Das muß belohnt werden und Elke bekommt einen dicken Kuß. Vielleicht hat mich jetzt noch jemand überholt. Interessiert mich das? In keiner Weise. Sehe Klaus, der mich fotografiert, freue mich darüber und mache auf Papst Johannes Paul II: Ich knie mich hin, küsse den Zielboden und komme doch tatsächlich ohne fremde Hilfe wieder auf die Beine. Wow. Der Rest ist nur noch Freude.

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Jetzt bin ich ein Zweieinhalbfach-Pheidippides (Achim: traumhafter Ausdruck, danke!). Aber noch höchst lebendig... 12:17 Std. sind weitaus schneller, als ich zu hoffen gewagt hatte. Eines muß allerdings gesagt werden: Die Wetterverhältnisse waren super. Nachts warm, vormittags mild und praktisch trocken. Wie grausam ein heißer Vormittag auf freiem Feld sein kann wissen diejenigen, die es erleiden mußten. Heute allerdings nichts dergleichen. Trotzdem bleibt die Streckenlänge immer dieselbe. Selbst heute, zwei Tage nach dem Lauf, kann ich mir die Streckenlänge nicht wirklich vorstellen. 100 km sind ja sooo weit, aber anscheinend habe ich es geschafft, denn attestiert ist es und meine stolzgeschwellte Brust ziert auch heute das hochbegehrte Angebershirt.

Mit Recht darf gefragt werden, ob man sich diese Strapaze wirklich antun muß. Diese Frage entscheidet jeder für sich ganz alleine. Wer die Marathonstrecke gut im Griff hat (was nicht heißen soll, daß einem die 42 km leicht fallen!), strebt fast zwangsläufig irgendwann nach Höherem, d.h. Längerem, wenn das mit dem eigenen Trainingsaufwand halbwegs in Einklang zu bringen ist. Und so wie Boston DER Marathonlauf schlechthin ist, so ist Biel eben die Mutter aller Ultras und sollte sowohl unter sportlichen Aspekten als auch wegen des hohen Erlebniswerts in keiner Sammlung fehlen. Ich jedenfalls werde noch in Jahren gerne darüber sprechen.

Diesen Bericht gibt es mit sehr vielen Bildern auch von außerhalb des Laufs auf Marathon4you.de!

 

Streckenbeschreibung:
Abwechslungsreicher und fordernder 100 km-Rundkurs mit 650 Höhenmetern

Rahmenprogramm:
In der Eissporthalle erfolgt am Donnerstag ab 18.30 Uhr die Ausgabe der Startunterlagen. Kleine Messe, Pastaparty (gegen Bezahlung).

Weitere Veranstaltungen:
Stafettenmarathon über 100 km (4 Läufer), Nachtmarathon (42,195 km), Halbmarathon, sog. Kids Run.

Auszeichnung:
T-Shirt (NACH dem Zieleinlauf!), Medaille, Soforturkunde und über das Netz, Ergebnisliste, Abschlussparty 

Logistik:
Bestens, alles nahe beieinander.

Verpflegung:
16 Verpflegungsstellen, absolut mehr als ausreichend, man muß nichts mitnehmen.

Zuschauer:
Gute Stimmung am Start/Ziel und in den durchlaufenen Dörfern, die ganze Nacht hindurch.