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1. Siebengebirgslauf am 13.12.2020


Wir lassen uns das Laufen nicht verbieten

Natürlich ist das zu Erwartende eingetreten: Der traditionsreiche Siebengebirgsmarathon, der im Dezember immer mit seinem kuschelig warmen Dorfgemeinschaftshaus besonders punktet, wurde genau aus diesem Grund abgeblasen: Unter den derzeitigen Bedingungen viel zu viele Leute auf viel zu wenig Platz. Das Ganze draußen stattfinden zu lassen wäre wohl in dieser Jahreszeit für einige hundert Personen kaum sinnvoll durchführbar gewesen. So ein Mist aber auch! Jetzt ist selbst meine Ausweichveranstaltung für die ebenfalls ausgefallenen  Marathons in Pisa und Málaga weggebrochen. Geht jetzt gar nichts im Dezember?

Mittlerweile dürfte jeder von Euch die kleinen, von rührigen Mitgliedern des 100 Marathon Clubs ausgerichteten Veranstaltungen kennen, die als Null-Euro-Läufe bei Selbstverpflegung, aber mit Teilnahmeurkunde gegen die Einsendung eines Laufnachweises durchgeführt werden. Das sind die wahren Lebensretter des passionierten Marathonläufers in zumindest diesbezüglich harten Zeiten. Was für viele Leute auf wenig Platz nicht geht, sollte doch für wenige Leute auf viel Platz möglich sein, dachte sich Ralf Löber, einer der selbstlos aktiven 100MCler, der eine ganze Reihe dieser kleinen Läufe ausrichtet. Warum nicht am Originaltag auf der Originalstrecke innerhalb eines großzügigen Zeitfensters bei Selbstverpflegung die liebgewonnene Tradition hochhalten?
 

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Mich hat er mit seiner Ausschreibung sofort gewonnen. Als alter Sack kommt mir direkt das Schlagersternchen vergangener Tage, Tina York, Schwester der erfolgreicheren Mary Roos in den Sinn, die da 1974 trällerte:

„Wir lassen uns das Laufen nicht verbie-hi-ten,
Das Laufen nicht und auch die Fröhlichkeit
Die gute Laune muß der Mensch behü-hü-ten
Ein Marathon heißt doch ein bißchen Freud'!“


Gut, vielleicht habe ich das nur ein ganz klein wenig angepaßt, und das Laufen war eigentlich Singen und der Marathon ursprünglich Schlager, aber recht hatte sie unzweideutig. Jedenfalls treffen die vier kleinen Zeilen meine, besser gesagt unsere Gemütslage ganz genau, denn mit mir sind Andrea, Hanne und Jürgen vor Ort, womit das Wiedtal-Quartett mal wieder vollzählig wäre. Wo Ihr gerade Tina York sagt: Unvergessen ist auch ihr schlüpfriger Titel „Einer wird kommen“. Auch hier habe ich den Bezug zum Laufen als Wunsch der im Ziel auf den Sieger Wartenden viel zu spät richtig verstanden.
 

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Weg mit diesen Gedanken und hin zum Läuferischen. Zu sehr früher Zeit um 7:30 Uhr, noch ist es dunkel, legen Jürgen, der mich mal wieder begleitet, und ich die knappe halbe Stunde zu Ort des Geschehens zurück. Dort treffen wir nicht nur auf die eben Genannten, sondern neben Claudia auch auf Melanie, beide Freundinnen von Andrea. Melanie hat heute eine ganz besondere Aufgabe, denn wir alle sind völlig planlos beim Umgang mit dem übersandten GPS-Track: Ich hab's noch nie gemacht, Hanne auch nicht, Jürgen hat nicht einmal eine Laufuhr. Und dann stünden wir ganz schön dumm da, wenn sich Melanie nicht als Fahrradbegleitung und Wegkundige bereiterklärt hätte. Ich habe sie schon jetzt liebgewonnen.

Kurz wird sich sortiert und schon geht es um kurz nach acht Uhr, kaum daß es etwas heller geworden ist, los. Den sonst üblichen Weg zum Start, dem Gangpferdezentrum, schenken wir uns, dafür laufen wir zum Ausgleich direkt vom Parkplatz vor dem Dorfgemeinschaftshaus eine Schleife zur Feuerwehr und zurück. Danach steht der Originalweg an. Zunächst noch auf Asphalt nehmen wir eine längere Bergabpassage unter die Füße. Leider pieselt es etwas und ich ohrfeige mich schon selber, keine Regenjacke mitgenommen zu haben, aber nach ein paar Minuten hört es wieder auf. Dafür ist die Temperatur mit windstillen 7° durchaus als freundlich zu bezeichnen. Hier habe ich bei Schneegestöber schon elend gefroren, aber auch fast Frühlingsgefühle bekommen.
 

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Kaum in den Wald eingetaucht, begegnet uns, wie bestellt, direkt der Herr Ausrichter samt Begleitung und stimmt uns schon mal auf km 5 ein, den Parkplatz am Reisberg. Dort gibt es nämlich, völlig unüblich für diese Null-Euro-Läufe, einen Verpflegungstisch mit heißem Tee, Wasser und Schokoriegeln, welch ein Luxus! Selbstverständlich wird erst einmal ausgiebig Rast gemacht. Eine lange Gerade bringt uns in Richtung Löwenburg, die wir allerdings heute nicht zu Gesicht bekommen werden. Nach 8,5 km haben wir den Berg, auf dem sie bzw. ihre Ruine steht, erreicht, laufen eine lange Schleife von 5 km und drehen dann eine zwei km lange Runde um sie herum. Dreimal sind wir dann am Löwenburger Hof gewesen. Hier und bei den Obstwiesen kommt man auch beim Löwenburg- und Drachenlauf vorbei, häufig war ich bereits hier gewesen.

An einer Stelle genießen wir eine phantastische Aussicht auf den Rhein und einige Gipfel des Siebengebirges. Läuft man auf Zeit, hat man dafür kein Auge. Wir haben Zeit, also zwölf Augen. Die übrigens, damit kein Mißverständnis entsteht, grundsätzlich brav Abstand voneinander halten. Natürlich paarweise. Abgesehen davon, daß sich in Gottes freier Natur nach übereinstimmender Meinung maßgeblicher Fachleute kaum jemand ansteckt. Nach einige Ahs und Ohs geht’s weiter. Die überwiegend sanften An- und Abstiege sind für uns berggestählte Westerwälder allesamt problemlos zu laufen.
 

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Wir treffen den unvermeidlichen Dietmar Mintgen, der, mittlerweile bei rund 800 Marathonläufen angelangt, jede sich bietende Gelegenheit zum zählbaren Laufen mitnimmt. Bin ich irgendwo unterwegs, ist er auch da. Welch ein Durchhaltevermögen! Er bleibt nicht der einzige Bekannte, auch Sigrid und Roland aus dem hohen Westerwald kommen uns entgegen. Vor fast auf den Tag genau einem Jahr haben wir uns beim Geburtstagsmarathon für ihren 80jährigen (Schwieger)Papa Norbert das letzte Mal gesehen. Bei km 18 sind wir wieder am VP, den wir schon nach 5 km „mitgenommen“ hatten, angelangt und fassen nochmal nach.

Schon lange sehen wir aus wie die Schweine, denn die letzten Tage hat es ordentlich geregnet, entsprechend ist die Wegbeschaffenheit. Zwischendurch lugt aber doch das eine oder andere mal die Sonne heraus und wärmt zumindest die Seele. Deutlich weniger erwärmend ist der Zustand des Waldes bzw. der Stellen, wo mal welcher gewesen war. Die trockenen Nadelbäume sind an vielen Stellen großflächig abgeholzt worden, tiefe Schneisen sind in den Wald geschlagen. Es sieht furchtbar aus und bietet einen ganz anderen Anblick, als es bisher üblich war. Andrea meint, daß doch das „Auge Gottes“ bald kommen müßte, und wenig später ist es auch soweit. Warum „Auge Gottes“? Für den Bau des Bildstocks gab es einen ganz profanen Grund: Professioneller Holzdiebstahl. Daher „Gottes Auge sieht alles – Bewahre mich vor Sünde“. Wir bewahren uns vorm Kaltwerden, daher geht’s auch gleich weiter.
 

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Kurz danach stehen die Reste einer V1-Stellung aus dem 2. Weltkrieg. Die V1 war ein von der späteren NASA-Größe Wernher von Braun entwickelter Marschflugkörper als „Wunderwaffe“, die, ab 1944 gegen v.a. London und Antwerpen eingesetzt, aber auch kein Wunder mehr erzeugen konnte. Wunder sind auch von uns nicht zu erwarten, aber brav setzen wir Schritt für Schritt und die km reihen sich aneinander. Auch vergleichsweise gemütlich kommt man irgendwann ans Ziel. Und dann traue ich meinen Augen kaum: der berühmte Bauwagen, der seit gefühlten hundert Jahren an dieser Stelle steht und das nahende Ende des Siebengebirgsmarathons verkündet, hat einen umfangreichen Anbau bekommen.
 

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In den langen Stellweg eingebogen, bekommen wir noch einmal das ganze Drama des Waldsterbens und Abholzens vor Augen geführt, ein wahres Trauerspiel. Dann sind wir in Himberg und uns wird schlecht. Weder vor Anstrengung noch vor Hunger, sondern vor Entsetzen, denn eines der ersten Häuser ist mit Weihnachts“schmuck“ vollkommen überladen. Wenn man schlechten Geschmack definieren müßte, würde ich diese Adresse angeben. Nix wie weg. Über die Straßenkreuzung in Aegidienberg hinweg sind alle 780 Höhenmeter abgearbeitet und nur noch zwei km abzustrampeln. Zwei km, auf denen ich im Jahre des Heils 2002 bei meinem ersten Marathon (heute ist es Nr. 161) fast gestorben bin. Endlose zwei km, die ich heute mit meiner Begleitung mühelos entlanghoppele. Aber auch in einem ganz anderen Tempo.
 

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Dann sind wir auf dem Parkplatz, stehen am Auto, und die gestrenge Hanne befiehlt weiterzulaufen. Oh Mann, was liebe ich diese Korithenkacker, die erst zu laufen aufhören, wenn auch genau 42,2 km auf dem Tacho stehen. Natürlich hat sie vollkommen recht damit und auf diese Weise sehen wir auch noch die Pfarrkirche von Aegidienberg. Über die Laufzeit decke ich den Mantel der Liebe und erinnere mich, daß ich in meinen besseren Tagen hier schon mal in 3:45 Std. durch war. Bei einem bleifreien Erdinger aus dem Kofferraum sind wir uns einig, daß wir a) einen tollen Lauf absolviert haben, b) Ralf für die Organisation äußerst dankbar sein dürfen und c) bei nächster Gelegenheit gerne wieder dabei sein werden. Denn: Wir lassen uns das Laufen nicht verbieten!
 

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