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8. Seiser Alm Halbmarathon am 04.07.2021


Ein Gedicht in Grün, Grau und Blau


Ich schaue an mir herunter und stelle eine Veränderung fest. Etwas ist anders als bei fast allen Läufen seit Februar 2020. Ein eher unscheinbares Stück Papier ist an meinem Shirt befestigt, darauf steht mein Name, derjenige der Veranstaltung und vor allem eine Zahl, die 198. Auf der Rückseite sind zwei weiche Streifen aufgebracht, die etwas Metall schützen. Man erzählt mir, das nenne sich Startnummer. Ich hatte schon fast vergessen, daß es so etwas gibt.

Jetzt mal im Ernst: Ich bin so froh, daß endlich wieder so etwas wie Normalität Einzug zu halten beginnt. Dafür sind wir nach Südtirol gereist, in Villanders haben wir bei Erlachers Quartier bezogen. Über den Eisack, auf der anderen Seite, liegen die Seiser Alm und der Rosengarten. Mit ersterem beschäftigen wir uns als erstes. An der Talstation der Seilbahn, die von Seis am Schlern nach Compatsch auf die Höhe führt, findet die unspektakuläre Startnummernausgabe statt, eine Messe gibt es nicht.

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Kann es wohl auch noch nicht geben, man konzentriert sich aufs Wesentliche. Und das sind wir, die ausgehungerten Läufer, die nach dem Normalen gieren. Die Normalen sind auch die Zielgruppe dieser Veranstaltung. „Weltrekorde werden bei uns mangels Prämien nicht gelaufen“, erklärt mir die Obexer Annemarie lachend, Ihres Zeichens Pressechefin, die auch bei der Startnummernausgabe selber mit Hand anlegt. Etwa 80 % der Teilnehmer kämen aus Oberitalien, überhaupt seien diesmal nur zehn Nationen vertreten, was sonst anders sei. Auf Läufer aus Übersee wartete man im Gegensatz zu sonst vergeblich, was sicher noch der allgemeinen Situation geschuldet sei. Und die läßt, Gott sei's geklagt, wieder einiges zu.

Klar, an 3G geht kein Weg vorbei: Bist Du nicht genesen, geimpft oder kannst einen maximal 72 Stunden alten Test nachweisen, bist Du draußen. Wir haben alles dabei, daher ist das Formelle schnell erledigt. Die Tüte, die man, nein frau, uns aushändigt, ist reich gefüllt. Neben dem Veranstaltungsshirt – rot für die Mädels, gelb für uns Jungs – finden wir ein Handtuch, einen Buff, Schlüsselanhänger, FFP2-Maske (mit dem Lauflogo bedruckt!)  und jede Menge mehr oder weniger interessantes Papier. Vor allem aber auch eine Freifahrkarte für die Seilbahn. 40 Euro bzw. 45 auf den letzten Drücker sind nach meinem Dafürhalten ein wirklich freundlicher Preis für diese Gesamtleistung.
 

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Morgens kommen unsere Freunde Andrea und Günther aus der Nähe von Kufstein angefahren. Günther und ich werden die 21,1 km unter die Füße nehmen, die Mädels sich in der Zwischenzeit gegenseitig bespaßen, denn Elke muß infektbedingt passen. Wettertechnisch befinden wir uns wieder mal auf der Sonnenseite des Lebens, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Schwein gehabt, nachmittags werden sich die Schleusen des Himmels für mehrere Stunden öffnen. Nicht auszudenken, wäre das vormittags geschehen. So sind wir eine Stunde vor dem für 9:30 Uhr angesetzten Start auf 1.850 m Höhe angekommen und können sogar noch ein Shirt in eine andere Größe umtauschen. Wasser steht auch schon bereit, sehr aufmerksam.

Die Zeiten, in denen ich wenigstens im Ausland – wobei ich mich mit diesem Begriff echt schwertue, denn wo man meine Sprache spricht, fühle ich mich zuhause – inkognito laufen kann, sind wohl endgültig vorbei. Auch Rainer Wachsmann von den LSF Münster ist vor Ort, ein nettes Hallo die logische Folge. So, jetzt wird’s aber Zeit zu starten. Zweimal wird das geschehen, für die Startnummern 1 – 250 um 9:30 Uhr, ab 251 fünf Minuten später. Wir stehen recht aufgelockert hinter dem Start- und Zielbogen, brav die Masken in der Schnüss. Pünktlich wird losgelaufen, ich habe gar nicht mitbekommen, ob ein Startschuß gefallen ist. Nettozeit, Piep, abgedrückt, es geht los. Wir früher! Ein Wunder.
 

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An etlichen Fans vorbei - die es eigentlich nicht hätte geben dürfen, aber die es natürlich doch gibt inkl. unserer beiden Mädels – legen wir die ersten drei km noch auf Asphalt zurück, was sich jedoch nachhaltig ändern wird. Die Bebauung von Compatsch lassen wir bald hinter uns, und nach Durchquerung einer Unterführung öffnet sich die Weite der Alm vor uns: Wiesen, Baumgruppen und Berge unter blauem Himmel, es ist ein Traum. Wie schön, daß wir das wieder erleben dürfen. Dafür ist die Gemeinsamkeit mit Günther schnell beendet, nach nur einem km lasse ich ihn sinnvollerweise ziehen, um es selber nicht zu übertreiben. Hinten ist die Ente fett, wie wir wissen. „Wann bist Du wieder da?“, wollte seine Andrea von ihm wissen. Seiner 2:10 Std. habe ich eine 2:30 Std. angehängt, schneller zu sein erscheint mir unrealistisch.

Schon nach zwei km versorgt man uns zum ersten Mal mit Wasser, ich greife trotzdem zu, denn man weiß ja nie. Doch, man weiß schon, denn bald darauf sind die ersten Höhenmeter zu gewinnen. Schnell wird aus der ersten Steigung ein strammes Bergauf, das die Gespräche jäh verstummen läßt. Und auch mutieren Läufer meiner Preisklasse alsbald zu demütigen Wanderern, die sich nach guten drei km zur Belohnung ins Trailvergnügen stürzen dürfen. Vor mir tut sich – wie lange habe ich diesen schönen Anblick vermissen müssen! - ein bunter Läuferlindwurm auf, der sich wie eine Perlenkette den Hang hinaufzieht. Von hinten wird gedrückt, die Schnellsten des fünf Minuten nach uns gestarteten zweiten Blocks beginnen zu überholen, kaum daß mein vierter km absolviert ist.
 

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Herrlich ist der (eingezäunte) Weg durch die Wiesen, es ist die pure Freude, hier und heute unterwegs zu sein. Was genau ist eigentlich die Seiser Alm? Benannt nach dem Ort Seis am Schlern ist sie mit 56 km² Fläche die größte europäische Hochalm oberhalb Seis, St. Ulrich in Gröden und Kastelruth, die Spatzen pfeifen's von den Dächern. Du kannst mit dem Auto hochfahren, aber die Parkgebühr ist saftig und das Fahren mit der Gondel macht eh mehr Spaß und ist auch noch etwas für Auge. Es sei denn, Du fährst mit der manipulierten am Lago Maggiore, das ging ins Auge und war die blanke Katastrophe. Hier ist aber offenkundig alles bestens, ruckzuck sind wir wir oben gewesen.

Weiter schrauben wir uns auf schmalem, gekiesten Weg in die Höhe, Laufen ist immer wieder möglich. An km 5 ist der vorerst höchste Punkt erreicht und die erste der beiden Hauptsteigungen abgearbeitet. 601 Höhenmeter hat man uns angedroht, Günther und ich haben unabhängig voneinander jeweils knappe 540 gemessen. Reicht auch. Über eine Seilbahnstation rasen wir je nach individuellem Vermögen auf einem breiten Weg abwärts. Ich muß zugeben das Gefühl zu entwickeln, nicht meinem Vermögen angepaßt unterwegs zu sein. Der Gedanke, in diesem Tempo das bisher Zurückgelegte noch dreimal schaffen zu wollen, erscheint mir im Augenblick wenig realistisch zu sein. Die Temperatur ist sehr angenehm, es rollt trotz meiner Bedenken.
 

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Nach 7 km sind wir im vergleichsweise Flachen angekommen, wieder gibt ein schmaler, eingezäunter Weg durch eine wunderbare Wiese eine schöne Kulisse ab. Ein Sumpf- oder Moorgebiet zwingt uns auf einen Bretterweg, was ich ganz besonders schätze. Solch einen bin ich erstmals in Miami Beach über mehrere km mit Herbert Steffny gelaufen, tolle Erinnerungen werden wach. Kleine Stege queren wir und haben immer wieder den Dreiklang aus Wiesen, Bergen und Himmel vor Augen, Balsam für die Optik. Ein Fiaker steht parallel unseres Weges, die Besatzung ist hochinteressiert, den Gäulen sind wir herzlich egal. Erstmals komme ich mit Ulrike Mayer-Tancic in Berührung, witzig ist unser „Duell“: Bergab ist die Regensburgerin die eindeutig Schnellere, bergauf hat Vater die Nase vorn. Am Ende wird sie zwei Minuten vor mir im Ziel sein, gut gemacht!

Wieder werden wir verpflegt, eine interessante geschnitzte Pilzgruppe zieht meinen Blick an. Auch eine feine Dame im Dirndel sticht mir zum zweiten Mal ins Auge und als ich vor ihr stehe, höre ich mich flöten: „Du bist so hübsch, das gibt ein Extrafoto!“ Sie geht auf den Spaß bereitwillig ein und ich frage mich, ob ich wissen müßte, wer sie ist, bekannt kommt sie mir vor. Etwas später fällt es mir wie Schuppen aus den Haaren: Es ist Helga Rauch, eine Zeit lang eine der besten Marathonläuferinnen in Südtirol. Sie bewirtet, wie ich jetzt weiß, heute die Rauch-Hütte und zierte auch einmal die Titelseite unseres Printmagazins. Da muß ich doch daheim direkt einmal nachsehen.
 

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Nach zehn km traue ich meiner Uhr kaum, denn die zeigt lediglich 59 Minuten an. Da ich in den letzten zwei Jahren kaum Tempotraining gemacht und nicht einmal einen einzigen Zehner absolviert habe, empfinde ich inzwischen einen Sechserschnitt selbst auf kürzeren, flachen Strecken als flott und wundere mich wirklich sehr. Das kann nicht durchgehalten werden, aber vielleicht ist es ja doch möglich, die avisierten 2:30 Std. um einige wenige Minuten zu unterbieten? Bald dahinter sind wir am heutigen Tiefpunkt angekommen, natürlich nur bzgl. des Höhenprofils der Strecke, versteht sich! Optisch werde ich dagegen weiter verwöhnt. Die Landschaft ist so abwechslungsreich, daß ich mich des öfteren zwingen muß, vor die Füße anstatt in die Ferne zu schauen.

Viele Holzhütten, die, unschwer zu erkennen, landwirtschaftlichen Zwecken dienen, zeugen von der langen Besiedelungsgeschichte. Der Schwerpunkt der heutigen touristischen Nutzung scheint auf dem Winter zu liegen, denn weder bei der Berg- noch der Talfahrt war Schlangestehen angesagt. Auch beim Lauf haben sich die Hoffnungen der Veranstalter von der Seiser Alm wohl nicht ganz erfüllt. 700 Startplätze waren ausgelobt, 455 Erfolgreiche wurden im Ziel gezählt (bei der letzten Austragung 2010 waren es noch 641 gewesen), die ausbaufähige Frauenquote beträgt gerade mal ein Viertel (2019 30%). Die Gründe können nur außerhalb des top organisierten Laufes liegen. Vielleicht traut der eine oder andere dem derzeitigen temporären (?) Corona-Frieden doch noch nicht ganz.
 

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In sanftem Wechsel zwischen Aufs und Abs über gut zu laufende Wege, immer wieder begleitet von grasenden Rindviechern, kommt dann die zweite ordentliche Steigung von durchschnittlich 10%, die uns über gute drei km zum höchsten Punkt auf 2.048 m Höhe bringen wird. Das ist genau das mir wohlbekannte kenianische Niveau, wenn ich mich in Kikuyu akklimatisiere, um in Nairobi auf guten 1.600 m zu laufen. Nächstes Jahr beabsichtige ich übrigens von einem ganz besonderen Exoten zu berichten, seid gespannt. Der Scheitelpunkt in den hiesigen Gefilden ist nach 14 km erreicht, es geht wieder abwärts. Wieder lassen schmale Wiesenwege, schöne Trails und das eine oder andere Brückelchen mein Herz höherschlagen.

Am nächsten VP gibt’s sogar Bananen. Ich bin bekanntermaßen der Meinung, daß über diese Entfernung Wasser völlig ausreichend ist, denn es dürfte einem kaum gelingen, die Kohlehydratspeicher auf 21,1 km zu leeren. Dessen ungeachtet sieht man einige Mitstreiter mit einer Batterie Gels um die Hüfte laufen. Noch einmal zwingt ein kurzer, strammer Aufstieg zur Erhöhung der Atemfrequenz, doch die Bergwacht ist vor Ort und schaut sich jeden ganz genau an. Dann geht es eindeutig wieder in Richtung „Heimat“, denn das schon vom Start her vertraute Ensemble aus dem Schlern, der Roterdspitze und den Rosszähnen, welche die Alm nach Südwesten begrenzen, sowie die Langkofelgruppe im Südosten haben wir jetzt ständig vor Augen. Ein Schmaus für die selbigen, auch wenn es sich mittlerweile etwas zugezogen hat.
 

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Stetig führt der Weg bergab, das heißt: Ulrike rauscht wieder an mir vorbei, was sie aber gerne darf. Ab und zu muß ich zum Fotografieren anhalten, Ihr wollt ja hinterher halbwegs brauchbare Fotos sehen. Über Moorflächen führen mehrere längere Holzstege, auf denen mir das Laufen sehr viel Freude bereitet. Compatsch rückt näher und näher, ich beginne nicht zum ersten Mal hochzurechnen. Klar ist, daß ich die angenommenen 2:30 Std. deutlich unterbieten werde. Andererseits will ich mich aber auch nicht zu sehr verausgaben, schließlich erwartet mich am nächsten Samstag noch eine gewaltige Aufgabe. Ach ja, die Begegnungsstrecke von zweimal 600 m hatte ich völlig vergessen. Ob ich Günther noch sehe? Aber nein, der ist längst durch und wird am Ende mit 1:59 Std. sogar die 2 Stunden-Marke geknackt haben.

Am Wendepunkt wartet der letzte VP, wo man uns sogar noch Cola anbietet, aber zu diesen Notwendigkeiten hatte ich mich ja bereits geäußert. Dann, auf dem zwanzigsten km, rückt das Start- und Zielgelände unter uns ins Blickfeld, ich meine sogar die Moderation schon vernehmen zu können. 2:03 und ein paar Zerquetschte zeigt das Zeiteisen, das wäre ja zu schön um wahr zu sein. Im Schweinsgalopp geht’s bergab, aber Mist, da kommt noch eine kurze Steigung. Und eine scharfe Rechtskurve. Und viel zu lange letzte hundert Meter. Den Zielbogen sehe ich schon, Elke und Andrea rufen und winken, ich zurück und drücke genau bei 2:10:00 ab. Wow, das hätte ich wirklich nicht im Ansatz erwartet. Und werde sehr angenehm überrascht, als mir die Ergebnisliste später drei Sekunden weniger attestiert.
 

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Nach einer Verschnaufminute gilt es, die mitgeführte Maske wieder aufzusetzen und die Tüte mit der Zielverpflegung samt Medaille in Empfang zu nehmen. Die hat es im wahrsten Sinne des Wortes in sich, schaut Euch das Foto an. Ein paar Zieleinläufe fotografiere ich noch, dann folge ich der im Vorfeld geäußerten Bitte der Veranstalter, sich möglichst schnell zu verdünnisieren. Die Siegerehrungen haben längst stattgefunden, und zwar unmittelbar, nachdem die jeweils ersten drei Mädels und Jungs durch waren. Wieder müssen wir keine Wartezeit in Kauf nehmen und können, nachdem ich mir die vor dem Start zum Schnäppchenpreis erworbenen neuen Trailschuhe abgeholt habe, direkt wieder talwärts fahren.

Was bleibt? Der Eindruck einer mustergültig vor traumhafter Kulisse durchgezogenen Veranstaltung, die alleine schon die Anfahrt nach Südtirol gelohnt hat. Das Ganze garniert mit ein paar Tagen Urlaub und einem krönenden Abschluß sechs Tage später ist die Aktion eine mehr als runde Sache. Vielleicht hätte man auch noch einen Zehner anbieten können, um einer noch größeren Zahl Läufer die Seiser Alm im Laufschritt nahezubringen. Mit einem Grinsen im Gesicht kehren wir nach Villanders zurück.
 

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Streckenbeschreibung:
Traumhafte, abwechslungsreiche Runde über die Seiser Alm inkl. offizieller 601 Höhenmeter. Zeitlimit 3:30 Std.

Startgebühr:
40 bis 45 €, je nach Anmeldezeitpunkt

Weitere Veranstaltungen:
Keine

Streckenversorgung:
Wasser, später Bananen und Cola.

Auszeichnung:
Für alle eine schöne, hölzerne, beidseitig bedruckte Medaille.

Leistungen/Logistik:
Funktionsshirt, Handtuch, Buff, Schlüsselband, Maske mit Logo, Kleiderbeutelverwahrung. Pandemiebedingt diesmal keine Duschen.

Zuschauer:
Überschaubar, es wurde aus naheliegenden Gründen auch davon abgeraten.