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23. Pisa-Marathon am 18.12.2022


Keine schräge Angelegenheit

Am späten Vormittag erscheine ich beim Verkaufsstand der Eintrittskarten. „Wie, Sie wollen heute noch hoch hinaus?“ Freundlich sind sie ja, die Italiener, aber das unterschwellige Wiehern in der Stimme der Billeteuse vernehme ich wohl. Na gut, dann kaufe ich halt eine für den nächsten Tag. Gesagt, getan. Beim Aufstieg der wenigen Touristen, die man gleichzeitig für teuer Geld auf den Turm läßt, zweifele ich schnell an meinem Zustand. Doch ist klar, daß ich absolut nüchtern bin. Weil man in der Bauphase mehrfach schief weitergebaut hat, um die Neigung auszugleichen, glaubt man beim Aufstieg einen im Tee zu haben. Jedenfalls hat der damalige Besuch bei mir mächtig Eindruck hinterlassen, weshalb ich gerne, diesmal zum Laufen, nach Pisa zurückkehre.

Für einen Touristen ist die Stadt klasse. Klein, überschaubar, attraktiv. Der Flughafen liegt direkt am Stadtrand, ruckzuck ist man, egal auf welche Weise, im Stadtkern. A propos Flughafen: Man erlebt auch im hohen Alter immer noch Überraschendes. So ist der Direktflug von Frankfurt nach Pisa erheblich teurer als derselbe Flug inkl. Zubringer von Düsseldorf. Das Risiko, den ersten Flug sausen zu lassen, um dann von Frankfurt auf dem zweiten nicht mitgenommen zu werden, ist für mich unkalkulierbar, daher starte ich brav in der Hauptstadt von NRW. Selbstverständlich mit veritabler Verspätung. Benedikt und ich haben uns inzwischen gegenseitig als Läufer identifiziert und leiden gemeinsam. In Frankfurt schließlich angekommen, wäre der Hauptflug eigentlich schon weg gewesen, hat aber letztlich seinerseits zwei Stunden Verspätung, sodaß wir erst gegen 20:30 Uhr vor dem Pisaner Flughafen Galileo Galilei stehen.
 

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Über die vergebliche Suche nach dem entscheidenden Bus sind alle verfügbaren Taxis bereits weg, neue lassen auf sich warten. Da die Startnummernausgabe um 22 Uhr  schließt, verliere ich als Erster die Nerven und trete den Fußmarsch an. Was in Pisa kein Problem darstellt, denn bis zum Hotel unmittelbar am berühmten Turm sind es nur 3,3 km und ich will ja schließlich Marathonläufer sein. Keine Dreiviertelstunde später bin ich eingecheckt und halte auch gleich darauf meine Startunterlagen samt Veranstaltungsshirt in der Hand. Deren Ausgabe findet ohne eine Messe unspektakulär im Hof eines Ospedale statt, die Optik des Innenhofs erinnert stark an Commissario Brunetti. Zu viert, Katrin und ihre sie begleitende Mutter sind dazugestoßen, gabeln wir erst  nach 22 Uhr unsere Spaghetti pomodoro samt Insalata mista. Uff, gerade nochmal gutgegangen.
 

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Die unmittelbare Nähe zu Start und Ziel läßt mich erst eine halbe Stunde vor dem Start ins Freie treten bei ganz anderen Verhältnissen als Zuhause. Bei weitestgehend klarem Himmel haben wir anstatt des heimischen Gefrierschranks bereits 7 Grad (plus), die mittags auf deren 13 ansteigen werden. Mit je einem Lang- und Kurzarmshirt bin ich perfekt angezogen. Viel Brimborium verbreiten die übersandten Informationen bzgl. der Startaufstellung, derweil die Realität völlig entspannt ist: Es gibt je einen Elite- und Fußvolk-Block. Im Letzteren plaziert man sich nach Gusto. Der Zufall läßt mich auch im Gewuhle erneut den Mittzwanziger Benedikt treffen, der heute Marathonpremiere hat und dank guter Vorbereitung unter vier Stunden bleiben möchte. Über das Beobachten meiner Umgebung vergesse ist fast meine Uhr zu starten, als es losgeht. Eine gute Minute nach dem Startschuß liegt die erste Zeitmeßmatte vor mir. Andiamo!

Sämtliche Zug- und Bremsläufer von 3 bis 5 Stunden befinden sich vor mir, als auch ich losdackele. Über eine piniengesäumte Straße streben wir in Richtung Arno, den Pisa durchquerenden, mit 241 km achtlängsten Fluß Italiens. Nicht nur mich rettet nach etlichen Metern entlang der Stadtmauer der erste buschbewachsene Grünstreifen, den ich bald wieder deutlich entspannter verlasse. Was jetzt kommt ist, darauf bin ich vorbereitet, die Schokoladenseite der heutigen Strecke. Eine lange, wunderbare Häuserzeile zur Linken, den Arno zur Rechten, die Apenninen am Horizont voraus, das hat etwas. Ich komme mit Rainer von den LSF Münster ins Gespräch, den ich schon häufig im In- und Ausland getroffen habe. Er will es heute noch ruhiger als ich angehen lassen, daher ziehe ich nach ein paar warmen Worten langsam davon. Die Pipipause hat mich natürlich weitere Zeit gekostet, sodaß ich mich ziemlich weit hinten im Feld bewege. Vorbei am Nationalmuseum, der Uni (40.000 der 90.000 Einwohner sollen Studenten sein) und weiterer attraktiver Fassaden erreichen wir die Ponte della Fortezza, auf der wir den Arno überqueren und auf dieser Seite den Rückweg antreten. Hier ist es noch schattig und etwas frisch, während die Gegenseite mild im schönsten Sonnenschein glänzt.
 

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Schon von weitem erkenne ich das Kirchlein Santa Maria della Spina, ein echter Hingucker aus weißem Marmor und grünem Serpentin. 1230 ursprünglich auf einem Kiesbett im Arno begonnen, wurde es aufgrund ständiger Hochwasserschäden ab- und 1884 an der heutigen Stelle wiederaufgebaut. Weiter stadtauswärts soll's auf der Straße durch einen Stadtmauerdurchbruch gehen, ich aber genehmige mir die paar Extrameter und passiere standesgemäß das ehemalige Stadttor Porta a Mare. Über ruhige Wohnstraßen kommen wir an einer bemalten Hausfront vorbei, die dem neben Leonardo Fibunacci (der mit der Folge) wohl berühmtesten Sohn der Stadt gewidmet ist: Dem Universalgelehrten Galileo Galilei, der 1564 hier geboren wurde. Einen Kanal überquerend stoße ich auf Cordula in ihrem Oberhausen-Shirt, die überrascht zusammenzuckt, als ich sie bitte, den Rhein-Herne-Kanal zu grüßen. Hier veranstaltet Michael Scheele vom TUSEM Essen regelmäßig einen Marathon auf einer 7 km-Runde.

La Vettola wird durch- und eine Schnellstraße unterquert. Einseitig für den Verkehr gesperrt hat man unsere Straßenseite, als wir von La Vettola nach S. Piere a Grado, einem Pisaner Stadtteil, kommen. Zehn km sind nach einer guten Stunde absolviert, als wir die einzig nennenswerte Steigung erklimmen, die uns eine Autobahn überqueren läßt. Insgesamt hat Frl. Suunto schlappe 25 Höhenmeter gemessen. Ein weiterer Hingucker ist die Basilika di San Piero a Grado, an deren Stelle der Heilige Petrus erstmals italienischen Boden betreten haben soll. An dieser Stelle lag damals der Hauptarm des Arno, heute ist die Stelle verlandet. Im 10. Jahrhundert auf alten Fundamenten und Gebäuderesten begonnen, macht sie auch heute noch äußerlich etwas her (zum Inneren kann ich aus naheliegenden Gründen nichts sagen). Die Kürze des Campanile haben Wehrmachtssoldaten zu verantworten, die das deutlich höhere Original 1944 sprengten. Auf einer schnurgeraden Straße über freies Feld geht’s weiter.
 

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An km 12 erfolgt die Streckenteilung der gemeinsam gestarteten Halb- und Marathonläufer. Letztere setzen ihren Weg fort, die Halben treten nach einem scharfen Knick über eine Parallelstraße den Weg zurück nach Pisa an. Ewig weit geht mein Blick auch hier nach vorne, gut, daß ich damit kein Problem habe. Auch nicht mit dem schon dritten VP, der das volle Programm aus warmem (!) Tee, Wasser, Orangen, Bananen, Zucker und Keksen bietet. Gleichermaßen Auge und Herz erfreut ein Pinienwäldchen, das uns für die nächste Zeit verschluckt, bevor wir einen größeren Militärkomplex streifen und nach einer weiteren langen Gerade den Badeort Tirrenia erreichen. Auch er gehört zur Stadt Pisa und wurde vom Duce gegründet. Viele Architekten aus ganz Italien bauten hier Waisenzentren und Häuser für Reiche. Ich bin weder das eine noch das andere, also weiter. Bald darauf erreichen wir unzweifelhaft das Meer, das wir aber noch nicht sehen können.

An den diversen Stränden und Fremdenverkehrsbetrieben ist eine rund 7 km lange Begegnungsstrecke eingerichtet (also zweimal 3,5 km), auf der sich wie immer prima die Konkurrenz, zumeist vor mir liegend, beobachten lassen kann. Ich verkneife mir den Hinweis, daß auch dieser Abschnitt kerzengerade ist. Aber er liegt in der Sonne, und das ist gerade im Dezember eine wohltuende Angelegenheit. Drei km sind’s bis zum Wendepunkt und ich bin beruhigt, daß nach mir doch noch einige Mitstreiter unterwegs sind, nicht wenige davon bereits am Gehen. Nach 26 km schimmert’s endlich blau zu meiner Linken, wunderbar ist das Mare Mediterraneum zu bewundern. Gebäude auf der rechten Seite lassen erkennen, daß wir uns in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen Marina di Pisa befinden. Wenig überraschend mündet hier der Arno ins Meer. Zwar sitzen so manche Gestalten in den Cafés und genießen die Sonne, strafen uns aber mit vollkommener Nichtbeachtung. Wie überhaupt ehrlicherweise festzustellen ist, daß die Pisaner sich nicht im Ansatz für den Lauf interessieren. 30 km sind absolviert, ein winterlicher Yachthafen liegt linkerhand. 
 

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Ich laufe auf Florian auf, mit dem ich, noch bevor wir wieder Stadtgebiet betreten werden, eine Laufgemeinschaft für die letzten zehn km bilde. Geteiltes Leid…, nein Quatsch, das ist es wirklich nicht, aber gemeinsam läuft es sich bei munterer Unterhaltung doch sehr viel netter. Jetzt ist auch der Arno wieder klar zu erkennen, dem wir seit Marina di Pisa parallel folgen bzw. besser gesagt entgegenlaufen. Der warme, süße Tee, den ich gemeinsam mit Wasser auch hier zu mir nehme, ist ein echter Segen. Ein langer Autostau entsteht wegen uns, doch auch bei denen ist die Anteilnahme gleich null. Eine tolle Ausnahme bildet der eine mit Jungvolk besetzte Wagen, aus dem heraus lautstark angefeuert wird. Am gegenüberliegenden Ufer leuchtet schon wieder der Torre Ghibellina, Teil der ehemaligen Zitadelle, den wir schon nach dem Start ausgiebig bewundern durften.
 

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Wunderbar strahlt der Arno in der Sonne, als wir ihn auf der Ponte della Citadella zum letzten Mal auf dem Weg in die Innenstadt überqueren. Die überdimensionalen Weihnachtsmänner am Kreisel kannten wir schon, ebenso den letzten km am Ufer des Arno. An der Ponte Solferino drehen wir in Richtung Ziel ab, die Begeisterung der nicht vorhandenen Zuschauer ist unverändert grenzenlos. Bei km 42 lugt der schiefe Turm übers Gemäuer, dann erscheint am Straßenende der links neben dem Torre pendente di Pisa gelegene Dom, die Zielgerade liegt quer zu ihm. Wie bereits in zahlreichen Ländern gesehen, entfaltet auch hier ein einfältiger Läufer die Bundesdienstflagge, um mit ihr strahlend die Ziellinie zu überqueren. Wobei der angesichts des Zustands seines Vaterlandes nur über seine eigene sportliche Leistung strahlen kann, den mit seinen 4:13 Std. ist der alte Mann zufrieden. Im Ziel gibt es eine tolle Medaille, dafür hat man an der Zielverpflegung gespart: Es gibt (nur noch?) Wasser in Bechern sowie eine Tüte mit Wasserflasche, Apfel und Minikuchen.

Sonst streng verboten werden heute alle Augen zugedrückt, als das Volk sich zum Erholen auf der sehr gepflegten Wiese breitmacht. Wären es noch deutlich mehr Teilnehmer, könnte man meinen, es sei Ende September und man läge vor dem Reichstag in Berlin. A propos breit: Mit genau solchem Blick strahlt mich Benedikt an, der seinen ersten Marathon in guter Verfassung nach nur 3:47 Std. beendete: 30 km liefen fluffig, danach wurde es zäh, und über die letzten fünf km breitet er den Mantel der Liebe. Also genau so, wie wir alle das auch kennen und lieben. Vor allem, wenn es geschafft ist. Eine Klasse für sich ist Katrin, die als achte Frau nach 2:58 Std. im Ziel war.
 

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Auf der Wärmefolie läßt sich das in der Sonne prima aushalten, der Blick auf den Domplatz, die Piazza dei Miracoli (nein, nichts zum Essen!) ist umwerfend: Das mittelalterliche Ensemble, bestehend aus (in der Reihenfolge, wie wir liegen) Baptisterium (größte Taufkirche der Welt), dem Friedhof Camposanto Monumentale, dem kreuzförmigen Dom Santa Maria Assunta und seinem Campanile, dem eben schiefen Turm, ist umwerfend und natürlich UNESCO-Weltkulturerbe. Googelt mal danach, es lohnt sich, einige Zeit darüber zu lesen. Und wer noch nicht hier war und es sich leisten kann (es ist kein besonders teures Revier), sollte einmal im Leben hier gewesen sein. Wenn man dazu auch noch des Laufens mächtig ist, ist die Verbindung mit dem (Halb)Marathon bei wie heute grandiosem Wetter ein Volltreffer. Eine Katastrophe mit nicht erreichtem zweiten Flug und deshalb Nutzung der Deutschen Bahn ist die Rückreise nach Germania. Aber das zu erzählen wäre eine eigene Geschichte.

Diesen Bericht gibt es mit deutlich mehr Bildern auch auf Marathon4you.de!

Streckenbeschreibung:
Flacher Rundkurs mit einer 2 x 3,5 km langen Begegnungsstrecke, Zeitlimit 6:30 Std.

Startgebühr:
Je nach Anmeldezeitpunkt 60 – 70 €, Veranstaltungsshirt inklusive. Achtung: Wer wie ich einem dem DLV angeschlossenen Verein angehört und einen Startpaß besitzt, benötigt keine sog. Runcard gegen Bezahlung!

Weitere Veranstaltungen:
Halbmarathon, 4 Meilen.

Streckenversorgung:
Wasser, warmer (!) Tee, Orangen, Bananen, Kekse und Zucker. Zielverpflegung ausbaufähig.

Auszeichnung:
Medaille. Gravurmöglichkeit gegen Bezahlung.

Leistungen/Logistik:
Alles nah und bestens beieinander, reichhaltiger Platz.

Zuschauer:
Fast unter Ausschluß der Öffentlichkeit.