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Decke-Tönnes-Marathon am 15.05.2021


Mehr als ein Trostpflaster 11.0: St. Antoni, ora pro nobis!

Andächtig stehen zwei Pilger vor der Kapelle und beten. Wir halten uns daher dezent im Hintergrund, auch wenn der Regen mittlerweile unsere Unterhosen erreicht und natürliche Körperformen zum Abfließen nutzt. Es ist kalt und wir sind daher froh, als sie ihre Gebete beendet haben und auch wir ihm den gebührenden Respekt zollen können. Um wen es sich handelt? Wir werden es erfahren.

100 Marathons gelaufen zu sein, ist eine wirklich respektable Angelegenheit. Kein Wunder ist es daher, wenn nicht nur ich das für erstrebenswert halte, sondern auch dem einen oder anderen läuferisch Werktätigen. Ein solcher befindet sich heute an meiner Seite. Thomas plant dieses Ereignis von epochaler Tragweite beim Berlin-Marathon, so Gott, Corona und unsere ach so fürsorglichen politischen Entscheidungsträger es zulassen. Allerdings fehlen ihm bis dahin noch fünf lange Kanten, und die wollen in einem reich gefüllten Terminkalender untergebracht sein. Wie auch immer - die Gattin hat grünes Licht erteilt und nach unserem ersten persönlichen Zusammentreffen beim Marathon in Bremerhaven machen wir es heute erstmals gemeinsam miteinander. Marathon laufen.
 

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Andreas Butz, überregional bekannter Lauftrainer und Buchautor, Inhaber von Laufcampus, hat schon vor vielen Jahren diesen Marathon als gemeinsamen Lauf (“Quasselmarathon”) ins Leben gerufen. Ein Gruppenlauf mit 830 Höhenmetern in viereinhalb Stunden ist mir mittlerweile schwer geworden, daher paßt mir die heutige Coronaausgabe gut ins Konzept, denn es gibt naturgemäß keine Zeitbegrenzung. Dazu hat Thomas schon signalisiert, daß er sehr viel Zeit benötigen wird, was mir ebenfalls gefällt, und so habe ich ihm zugesagt, ihn auf Gedeih und Verderb zu begleiten. Ehrlich gesagt bleibt mir auch gar nichts anderes übrig, denn er hat die Aufgabe der Navigation übernommen und den Track auf dem Handy, ohne ihn bin ich lost in space. Ihm tut die Begleitung gut und so gereicht der heutige Tag beiden zum Vorteil. Es sollten kurzweilige Stunden werden.
 

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Der Startpunkt hat sich allerdings geändert: Trafen wir uns früher an Andreas’ Wohnhaus, geht es heute an Haus Maria Rast los. Das ehemalige Herrenhaus wurde nach dem letzten Krieg teilzerstört von den Schönstätter Schwestern übernommen und präsentiert sich in einem hervorragenden Zustand. Alles Notwendige zum Überleben haben wir auf dem Rücken im Rucksack dabei, ich bin erstmals mit 2 l Wasser in der Trinkblase, einem weiteren halben Liter in einer sog. Softflask und einer Halbliterflasche Cola unterwegs. Sauschwer ist das Teil in der Hand, auf dem Rücken jedoch nicht.
 

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Im Gegensatz zum sonst üblichen 43,5 km-Rundkurs besteht die heutige Aufgabe aus einer 34 km-Runde als Teil der bisherigen Strecke und einer anschließenden Zusatzschleife von 8 km. Die ist wegen des veränderten Startpunktes notwendig geworden, Haus Maria Rast kam sonst nach km 6 oder 7, wenn ich mich richtig erinnere. Jetzt aber ab auf die Strecke! Einer kleinen Runde um das Hauptgebäude folgt ein U-förmiger, wunderbarer weicher Trail in einer Allee noch auf dem Gelände der Schwestern, bei denen wir bereits die ersten Höhenmeter sammeln. Ganz gemächlich arbeiten wir uns nach oben, dabei kann ich mich direkt ans heutige Tempo gewöhnen. Auf mir bekanntem Pfad geht’s dann außerhalb der mehr oder weniger heiligen Stätte weiter. Bald schon erreichen wir einen der optischen Höhepunkte der heutigen Aufgabe, nämlich einen aufgelassenen Steinbruch. Für mich ist es ein fast heimatliches Wiedersehen, ein Erinnerungsfoto fast obligatorisch.
 

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In einem steten Auf und Ab, eigentlich mehr Auf als Ab, erreichen wir die Ortschaft Eschweiler. Bei älteren fußballinteressierten Semestern wird es direkt klingeln: Walter Eschweiler, Fußballschiedsrichter seligen Angedenkens. Sein weitergeführtes Bundesligaspiel trotz nach dem Zusammenprall mit einem der Spieler verlorenen Zahns ist unvergessen. Doch das kurze Eintauchen in die Zivilisation ist schon bald vorbei, ein langer Anstieg kommt mir sehr bekannt vor. Klar, den bin ich zu früheren Zeiten recht locker hochgehoppelt, heute ist demütiger Wanderschritt angesagt. Demut steht uns anläßlich des Kommenden auch gut zu Gesicht, denn nach Maria Rast kündigt sich der aus christlicher Sicht zweite Höhepunkt des Tages an.
 

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Wir befinden uns an der Kapelle des dicken Anton, im Eifler Platt der „Decke Tönnes“ gennant. 335 m beträgt der Höhenunterschied zwischen Start und Kapelle. Sie ist ein viel besuchter Wallfahrtsort an einer stark befahrenen Straße im Kreisdekanat Euskirchen, Erzbistum Köln. Verehrt wird der Eremit St. Antonius. Er wird heute als Schützer des Waldes und der Tiere geachtet. Früher stand der Decke Tönnes im Freien. Um 1900 erhielt er ein Dach über den Kopf. Wind und Wetter hatten ihm in den vergangenen Jahrhunderten doch so zugesetzt, daß man diese überlebensgroße Statue (deshalb „Decke“ Tönnes) zu einem Restaurator geben mußte. Täglich halten viele Wanderer, Läufer und Autofahrer an seiner Kapelle inne. Wir auch. “St. Antoni, ora pro nobis” lesen wir am Giebel und setzen darauf, daß er unseren Heimweg sicher begleiten möge. Zu ihm werden viele unterhaltsame Geschichten und Sagen erzählt. Er war Helfer gegen Hautkrankheiten, wird oft als Schweinehirt dargestellt und dient heute als Schutzpatron des Waldes und der Autofahrer. Sicher freut sich im Himmel Antonius darüber, dass wir Ausdauersportler ihn auch als Patron der Waldläufer verehren und er 2005 Namensgeber für diesen Marathon geworden ist.
 

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Fast eine Stunde lang begleitet uns erneut  nun stärkerer Regen und ich beginne mich zu fragen, ob die Entscheidung für Kurz/Kurz richtig war. Glücklicherweise habe ich ein Laufunterhemd angezogen, könnte die mitgeführte Jacke aus dem Rucksack holen, habe letztlich aber doch keine Lust dazu. 13 bis 14 Grad beträgt die Außentemperatur, das ist nicht dramatisch, solange man in Bewegung bleibt. Beim Durchmessen dichten Waldes beginnt Frl. Komoot, die uns bisher sicher auch verbal geführt hat, gänzlich unkommod zu werden. Wir können den zu unserer Rechten verlaufenden Waldweg nicht nehmen, da er durch Baumfällungen und -abtransport gänzlich unpassierbar geworden ist, und das schmeckt unserer Führerin gar nicht. Regelmäßig zum alle 500 m einsetzenden Geplapper nervt sie im ständigen Versuch, uns zur Umkehr zu bewegen. Männer in unserem Alter bekehrt man nicht mehr, daher schreiten wir tapfer weiter voran, begleitet vom Gewinsel der Dame, die meint, recht zu haben. Weiber! Bestimmt an die zehn km geht das so, bis sie sich beruhigt und mit den Tatsachen abfindet.
 

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An der Steinbachtalsperre versorge ich Thomas mit Heldensagen meiner Teilnahmen am dortigen Silvesterlauf. 3 km beträgt die dreimal zu durchmessende Runde um das Gewässer, begonnen mit einem Anlauf von 1 km Länge. Der jedoch wurde nie konsequent überwacht, man konnte problemlos unterwegs “zusteigen”. Vermutlich war das der Grund gewesen, letztlich auf ihn zu verzichten und die unkonventionelle Streckenlänge von 9 km in Kauf zu nehmen.  Schöne Blicke über die wellige Eifel umschmeicheln unsere Augen, der gerade aufblühende gelbe Raps rundet das Bild vortrefflich ab. Selbst durch den Nieselregen durftet er angenehm, es ist Frühling. Nur heute leider nicht, für den sonstigen Wonnemonat ist es eindeutig zu naß und kalt. Naß ist auch das Stichwort für die Hardtburg. Die gut erhaltenen Reste einer Wasserburg aus dem 11. oder 12. Jahrhundert sind zwar schon seit dem 18. Jahrhundert ruinös, werden aber seit 1965 instandgehalten. Sie ist frei zugänglich und macht von außen einen guten Eindruck. Tatsächlich kam die für mich überraschend, ich hatte sie gar nicht mehr auf der Pfanne gehabt.
 

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Ein wenig Zivilisation war doch auf dem Rückweg auch noch gewesen, wie ich mich erinnere. Natürlich, gerade das überdimensionale Kreuz über Kreuzweingarten habe ich nicht vergessen, der Aussichtspunkt über diese Ortschaft ist wirklich toll. Genauso wie der wunderbare Downhill in Richtung Eisenbahnschienen. Wenn ich behaupte, das sei wie bei mir zuhause, ist das Ausdruck höchsten Lobes. Thomas eiert unsicheren Schrittes herunter, ich muß einfach an ihm vorbei und leichtfüßig wie eine Gemse (oder so ähnlich) die Serpentinen hinunterspringen. Über die Bahnstrecke durchqueren wir den Ort und die Strafe für den Downhill folgt in Form eines strammen Uphills auf dem Fuße.
 

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Der nächste Höhepunkt folgt fast auf dem Fuße, doch Thomas hat keinen Sinn mehr dafür und will nur noch “nach Hause”. Daher exklusiv für Dich, lieber Thomas, in Wort und Bild: Die Reste eines Römerkanals (Wasserleitung) zeigen uns, in welch hohem Lebensstandard man schon vor zwei Jahrtausenden zu leben verstand. Die Wasserleitung nach Köln war eines der längsten Aquädukte des römischen Imperiums und gilt als größtes antikes Bauwerk nördlich der Alpen. Zum Schutz vor Frost etwa 1 m unterhalb der Erdoberfläche verlaufend, wurde sie um das Jahr 80 n. Chr. aus Gußmauerwerk (Vorläufer des Betons, wie das Kolosseum in Rom) und im Halbbogen gemauerten Steinen vom römischen Heer erbaut und ca. 180 Jahre lang genutzt.

Sie hatte eine Länge von 95,4 Kilometern und eine Transportkapazität von bis zu 20.000 Kubikmetern Trinkwasser je Tag. Zählt man die verschiedenen Zuleitungen von den Quellen noch hinzu, dann hatte die Leitung sogar eine Länge von 130 km. Die Anlage versorgte die damalige römische Stadt Köln mit Wasser für die öffentlichen Laufbrunnen, Thermen und privaten Hausanschlüsse und transportierte das Wasser einzig und allein durch ihr Gef¦lle. Sie gehört zu den Denkmälern damaliger, bis heute nachwirkender Ingenieurskunst. Das, was heute noch zu sehen ist, sieht beileibe nicht nach zweitausend Jahren aus. So manches, was auf „nur“ tausend Jahre angelegt war, existierte bekanntermaßen schon zwölf Jahre später nicht mehr…
 

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Oh ja, an diesen langen, auf einen Waldrand zuführenden Feldweg kann ich mich gut erinnern. Üblicherweise war ich hier, damals war das gegen Laufende gewesen, schon ziemlich kaputt und habe diese “überflüssigen” Höhenmeter kräftig verflucht. Heute geht es raupenartig nach oben. Da sich unsere Wohlfühltempi doch etwas unterscheiden, bekommt es mir besser, wenn ich ein paar hundert Meter vorauslaufe und dann warte. Im wiederkehrenden Regen, verbunden mit heftigen Böen, ist das aber  nicht ganz so nett. Immerhin hat auch das mal ein Ende, als wir an einem offenkundigen (vielleicht ehemaligen?) Bundeswehrdepot vorbeikommen. Schon länger befinden wir uns auf der Zusatzschleife von acht km, ganz nah sind wir unseren Autos gekommen, haben diese aber glücklicherweise nicht sehen können. Psychologisch ganz gewiß von Vorteil. Und so ziehen sich die letzten km zwar wie Kaugummi, werden aber doch peu-á-peu weniger und sogar der Herr Butz hat ein Einsehen, denn die letzten drei verlaufen sanft abfallend. Zusätzlich bringt unsere ausgiebige Fachsimpelei über das Schwermetall im Allgemeinen und Metallica sowie die Burning Witches (v.a. “Hexenhammer”) reichlich Ablenkung.
 

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Dann heißt es schließlich links einbiegen, noch 900 m sind nach Maria Rast zurückzulegen. Mist, an den Autos fehlen uns 300 m auf dem Tacho, also werden die in der Anlage, wo wir die ersten Meter zurückgelegt haben, nachgeholt. Schummeln ist natürlich nicht, Ordnung muß sein. Dank des heiligen Antonius, unseres geschätzten Decke Tönnes, sind wir also gut durchgekommen und haben unsere Zähler mal wieder um ein Finish steigern können. Mal schauen, vielleicht wird es auf dem Weg zu Thomas’ 100. noch einen gemeinsamen Lauf geben. Ich stehe ja bekanntlich auf Abwechslung und werde wohl das nächste Mal eine längere Anfahrt zu einem mir sehr attraktiv erscheinenden Ziel in Kauf nehmen. Unser heutiger Dank geht an Andreas, der eine wirklich schöne Strecke ausgesucht hat.

Danke, Thomas, für die folgenden Fotos!
 

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