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Rheinaue-Marathon am 14.05.2020


Mehr als nur ein Trostpflaster

Ach, es ist einfach nur traurig: Die Auswirkungen der Corona-Pandemie haben nicht nur das öffentliche, normale Leben lahmgelegt. Nein, auch der Sportbetrieb ruht flächendeckend, sämtliche Laufveranstaltungen sind abgesagt. Was macht derjenige, der eigentlich gerne Marathon liefe, aber nicht darf? Nun, eigentlich darf er schon, denn niemand hält einen ab, das alleine für sich selbst zu tun. Der eine steckt dazu einen Kurs auf dem eigenen Grundstück ab, der andere läuft 42,195 km auf seinem sieben Meter breiten Balkon.

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Mein Ding ist das nicht. Wenn ich bekanntermaßen schon ungerne lange Trainingsläufe ohne Startnummer absolviere (also „sinnlose“), dann schon gar keinen Marathon. Außerdem wäre das ja auch nicht zählbar im Sinne des 100 Marathon Clubs. Denn für eine Anerkennung ist zwingend die Teilnahmemöglichkeit für Jedermann vorgeschrieben und mindestens drei Personen müssen am Start stehen mit der festen Absicht, den Lauf auch erfolgreich zu beenden (das ist die Kurzform).

Ausgefallen sind für mich bis jetzt mein Wiedtal-UltraTrail sowie der Marathon auf Ibiza und der Transvulcania auf La Palma, die drei für März, April und Mai geplanten Läufe. Shit happened. Gut, es wird weitergehechelt, man will sich ja fithalten und irgendwann könnte es wieder möglich werden mit offiziellen Läufen. Schon lange trainiere ich zwar eher mehr als vorher, aber keine langen, langsamen Läufe von deutlich über zwei Stunden Dauer. Daher war es in den vergangenen Tagen allerhöchste Zeit für zwei „Lange“ von 26 bzw. 30 km geworden. Ohne Startnummer, was willst Du machen.

Am Sonntag meldet sich der Joe bei mir: Marathon bzw. “7h-Challenge Bad Godesberg“ in der Bonner Rheinaue, veranstaltet vom 100 MCler Wolfgang Gieler. “Bist Du dabei?” Etwas Vergleichbares habe ich bei Christian Hottas, unserem Marathon-Weltrekordler mit bald 3.000 Läufen über mindestens 42,195 km in den Hamburger Teichwiesen mal gemacht. Kleine Veranstaltung über viele Runden zwar „nur“, zählt aber. Ein „richtiger“ Marathon ist eigentlich eher mein Ding, aber gerade auch dieser Lauf hat eine lange Geschichte, weit über tausend Durchführungen und ist insofern Kult. Wolfgangs Angebote m.E. zwar (noch) nicht ganz, aber das kann ja noch werden. Joe fragt also, ob ich teilnehmen würde. Langweilig ist es mit dem Kameraden nie, könnte also nett werden. Kurz entschlossen weicht das für Donnerstag vorgesehene Homeoffice einem Freistellungstag. Und das Beste daran: Seit wenigen Tagen ist das generelle Veranstaltungsverbot in NRW aufgehoben und damit die Zählbarkeit erneut gegeben.
 

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Mit meinem Freund Jürgen bin ich einer von acht zugelassenen Teilnehmern, die sich gegen 9 Uhr auf dem Parkplatz an der Minigolfanlage in der tollen Rheinaue Bad Godesberg treffen. Die Regeln sind denkbar einfach: Anmeldung spätestens am Vorabend, null Euro Startgebühr, keinerlei Haftung durch den Organisator, für den Marathon 8 Runden á 5,3 km Länge (per Meßrad und GPS vermessen), keine Verpflegung, variabler Starttermin, max. sieben Stunden Laufzeit, spätere Urkunde gegen ein Beweisfoto der Laufuhr. Klein ist die Welt der positiv Verrückten: Wir treffen als Bekannte nicht nur den Joe, sondern auch Julia und Dietmar, die beide schon unseren StaffelMarathon in Waldbreitbach unter die Füße genommen haben.
 

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Die Temperatur ist mit augenblicklichen 6 Grad noch sehr frisch, erwarten dürfen wir gegen Laufende bis zu 13 trockene Grad. Perfekte Bedingungen also für wieder einmal eine lange, ruhige Trainingseinheit mit Belohnung in Form einer Urkunde nach Vorlage eines Beweisfotos der Laufuhr. 8 Runden in 4:30 Std. erlauben gute 33 Minuten pro Runde, also einen Schnitt von etwa 6:20 min/km. Irgendeinen Anhalt muß ich ja haben und wenn es länger dauern sollte, wäre das halt so. Was bzw. wer mich besonders freut ist Eckbert, mein Freund und Kollege, der gemeinsam mit mir und anderen in Kenia war. Sein Büro liegt kaum 500 m vom Parkplatz entfernt, den Vormittag hat er sich freigeschaufelt und wird mich zahlreiche km begleiten. Klasse!
 

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Die Startzeit ist freigestellt, daher dackele ich ganz entspannt – hoffentlich wird es auch so bleiben! - um 9:20 Uhr los, Eckbert und Jürgen im Schlepptau. Oder umgekehrt. Unter Wahrung der gängigen Corona-Regeln, versteht sich. Ein dicker Kreidestrich und die Markierung „7 h“ bilden die Startlinie. Ich bin wirklich gespannt auf die Runde, die Wolfgang noch vor 6 Uhr mit Kreide markiert hat, wie ich seiner E-Mail von 5:49 Uhr (!) entnehmen durfte. Spaziert bin ich hier im wohl beliebtesten Bonner Laufrevier schon öfter, aber noch nie gelaufen. Vor hatte ich es schon viele Jahre, jetzt ist die Gelegenheit da.

Vor uns liegt ein Mix aus mal mehr, mal weniger breiten asphaltierten Wegen, ab und zu sind auch schmale, gekieste zu nehmen. Noch hält sich der Besucherstrom in engen Grenzen, was zu früher vormittäglicher Stunde an einem Werktag (Donnerstag) nicht wirklich verwundert.  Hinter dem Großparkplatz laufen wir direkt quer durch die Rheinaue zum Uferradweg, um diesem zunächst einige hundert Meter rheinaufwärts zu folgen. Bald schon sehen wir den Wendepunkt, der uns auf dem Fußgängerstreifen rheinabwärts wieder zurückbringt, hier haben wir also eine Begegnungsstrecke. Bald stoßen wir auf Joe mit Wolfgang und nach einem weiteren kurzen Schwätzchen geht’s weiter ins Herz dieses tollen Parks.
 

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Der 160 ha große Freizeitpark Rheinaue, von Einheimischen nur „die Rheinaue“ genannt, entstand in den Grundzügen Ende der 1970er Jahre. Damals unbebaut und landwirtschaftlich genutzt, war der Auwald am Rhein durch die Begradigung und die intensive Schiffbarmachung des Flusses stark reduziert worden. Nachdem Bonn 1949 provisorische Bundeshauptstadt geworden war, entstand am nördlichen Rand der Rheinaue das Regierungsviertel, am südlichen eine Siedlung für US-amerikanische Diplomaten. Da die Rheinaue das größte unbebaute Areal im Herzen des gewachsenen Bonn darstellte und zudem an einige bestehende Regierungsgebäude grenzte, bot sich hier der Bau eines großen, repräsentativen Regierungsviertels an, der alle Bundesministerien räumlich konzentriert hätte.

Einige, glücklicherweise nicht alle dieser Pläne wurden umgesetzt. Um die verbliebenen Grünflächen als Naherholungsgebiet zu retten, bewarb sich die Stadt Bonn um die Bundesgartenschau 1979. Sie erhielt den Zuschlag und ließ die bestehenden Rheinwiesen und anliegende landwirtschaftlich genutzte Flächen nach Durchführung eines Architektenwettbewerbs zum heutigen hügeligen Landschaftspark umgestalten. 45 km Fuß- und Radwege, mehrere Seen und Spielplätze wurden angelegt. Heute ist die Rheinaue das beliebteste Bonner Naherholungsgebiet.
 

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Für uns ist es das augenblicklich beliebteste Laufgebiet, einfach klasse. Bald schon kommt die Konrad-Adenauer-Brücke („Südbrücke“) in Sicht und wird unterquert. Über sie führt mein arbeitstäglicher Weg vor Durchquerung der Stadt in Richtung Hardthöhe. Plötzlich stehen wir vor einer Weggabelung. Links oder rechts? Dummerweise sehen wir keine der bisher vorbildlich angebrachten Kreidemarkierungen auf dem Boden. Entscheidung – rechts. Nach einigen hundert Metern sind wir wieder auf Asphalt. Kein Kreidestrich. Also zurück, an der Kreuzung geradeaus (was vorhin links gewesen wäre) und am Aufgang der Brücke sehen wir den nächsten Pfeil. Murphys Gesetz wurde wieder mal bewiesen. Auf der Brücke ein Blick nach rechts und ein markantes Gebäude erscheint hinter dem Teich, der sog. Lange Eugen.

Der ist das 1969 fertiggestellte ehem. Abgeordnetenhochhaus der „Bonner Republik“. 115 m hoch bekam er den Namen als ironische Anspielung auf seinen geistigen Vater, den ehemaligen Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier. Denn der war natürlich gerade eben nicht lang, sondern von kurzer Statur gewesen. Wir sind Brüder im Geiste. Bereits knapp 30 Jahre nach der Fertigstellung wurde der Bau 1997 unter Denkmalschutz gestellt. Nachdem der Bundestag in Folge der Verlegung des Parlaments- und Regierungssitzes im Sommer 1999 nach Berlin umgezogen war, diente der „Lange Eugen“ verschiedenen Zwecken. Seit 2006 beherbergt er Organisationen der Vereinten Nationen
 

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Auf dem Rückweg – letztlich laufen wir in etwa ein großes Rechteck ab – unterqueren wir wieder die Südbrücke. Unmittelbar hinter ihr wurden die Wege neu geteert, daher ist der Hauptweg abgesperrt, wir müssen uns ganz links bzw. rechts vorbeimogeln. Die Absperrgitter werden gerade abgebaut, im späteren Verlauf können wir dann geradeaus laufen. Rechterhand lockt, leider geschlossen, der Biergarten mit seinem markanten, pagodenförmigen Gebäude. Ein weiteres Glanzlicht ist der hübsche, leider ebenfalls geschlossene, 1979 zur Bundesgartenschau eröffnete japanische Garten. Nach guten fünfeinhalb km kommt der Parkplatz und damit unser VP in Sicht. Im Kofferraum ist alles, was wir benötigen, und nach kurzer Verpflegungspause geht’s auf die zweite Runde.

Schon zu Beginn erkennen wir links über der gesamten Anlage ein Riesengebäude, den 162,5 m hohe Post Tower. Der ist als Zentrale der Deutschen Post und DHL das höchste deutsche Hochhaus außerhalb Frankfurt am Mains. Mit 41 Ober- und 5 Untergeschossen ist es kein einheitlicher Körper, wie man vermuten könnte, sondern hat die Form zweier um 7,4 Meter zueinander versetzter Kreissegmente. Zwischen den Stockwerken gibt es als großflächige Verbindungsplattformen insgesamt vier sogenannte Skygärten zwischen den beiden Gebäudesegmenten. Ich hasse dieses Denglisch. Warum nutzt man nicht konsequent unsere Muttersprache? Vermutlich ist das einfach zu unkühl.

Klasse ist auf jeden Fall die Außenbeleuchtung des Gebäudes: An der Fassade sind auf mehreren Ebenen Farbwechselscheinwerfer und 1.925 Leuchten mit jeweils drei Hochspannungsleuchtstoffröhren in den Farben Rot, Gelb und Blau (insgesamt 5.775 Rohre) montiert. Dadurch kann die Fassade nachts in wechselnden Farben leuchten und das sieht richtig stark aus. An Weihnachten leuchtet ein Tannenbaum mit Kerzen, nach Deutschlands Finalsieg bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 war der WM-Pokal zu bewundern.
 

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Mehrfach noch auf unserem weiteren Weg werden wir ihn bewundern können, denn er ist im wahrsten Sinne des Wortes überragend. Auf dem Rhein herrscht völlig ungewohnte Ruhe. Normalerweise ist diese Hauptwasserstraße autobahnähnlich genutzt, aber wohl Corona-bedingt sind kaum Schiffe zu sehen. Auf der gegenüberliegenden, der Beueler Seite glänzen inmitten des sog. Bonner Bogens das Kamea-Hotel und die sog. Rohmühle, ein denkmalgeschütztes Gebäude des ehem. Zementwerks. Heute beherbergt sie im unteren Bereich ein nettes Restaurant. Sonntags auf der Terrasse in der Sonne zu brunchen hätt jet, wie man bei uns zu sagen pflegt. Exakt dort, wo wir den Rheinuferweg nach links verlassen, lugt zwischen den Bäumen der Bismarckturm zu Ehren des großen Steuermanns Kaiser Wilhelms I. hervor.

Nach 1:06 Std. sind die ersten 10 km im Sack. Nicht ganz in dem Tempo, das ich eigentlich anschlagen wollte, aber was soll's. Außerdem gibt es heute für Jürgen eine wichtige Hürde zu nehmen, nämlich seinen ersten Marathon. Das gilt es zu erreichen, alles andere ist unwichtig. Nach der zweiten Runde hängt Eckbert zu meiner Freude noch eine dritte dran, und absentiert sich erst danach zur Arbeit. Wir haben weiter unser (noch) entspanntes Vergnügen. Unterwegs treffen wir auf Wolfgang und Joe, die brav im Corona-Abstand einträchtig zusammen traben. Auch die eingangs erwähnten Julia und Dietmar treffen wir nach längerer Zeit mal wieder und tauschen die eine oder andere Neuigkeit aus.
 

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Vier Runden sind nach 2:21 Std. absolviert, alles im Lot. Jürgen läuft erfreulicherweise weiter. Zwei Runden schließt sich uns Arno an und verkürzt die Zeit durch große Mitteilsamkeit. Hocherfreut entdecke ich meinen Freund Marco, der es sich nicht hat nehmen lassen, vorbeizuschauen, um uns anzufeuern. Immer wieder schön anzuschauen sind auch das Freilufttheater, die großen, gepflegten Wiesen, die Teiche, die Gänse und so manches mehr. Eine schöne Ecke ist das, uns wird nicht langweilig und wir genießen. Gut, die km gehen natürlich auf die Dauer schon in die Beine. Jürgen hält tapfer durch, fragt aber nach 40,7 km, ob er denn nach 42,2 km mal gehen dürfe. Junge, Du „darfst“ selbstverständlich sofort gehen (ich hätte, ehrlich gesagt, nichts dagegen gehabt, sage ihm das aber nicht). Nein, der Marathon wird durchgelaufen, gehen mag er zwar, aber erst später. Tja, und das machen wir auch. Nach 42,2 km in 4:46 Std. gibt’s die verdiente, herzliche Gratulation zum ersten Finish. Ja, ich weiß, er hat sogar schon mal unseren Wiedtal-Ultratrail mit seinen 65 km Länge und 2.100 Höhenmetern +/- geschafft, aber das war wirklich sein erster Marathon.

Und weil die Bänke derart schön im Licht stehen, setzen wir uns spontan darauf und genießen die Frühlingssonne. Den letzten km zurück schlendern wir. Ein hochzufrieden stellender Vormittag ist zu Ende, der mehr als das erhoffte Trostpflaster für die ausgefallenen „richtigen“ Läufe war. Danke nochmals, lieber Wolfgang, für Dein Engagement und den organisatorischen Rahmen. Wir sehen uns am 9. Juni in Bad Neuenahr zum Ahrufer-Marathon wieder.
 

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